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27.04 – 4 Wochen nach Verletzung
Mein vorderer Kreuzbandriss ist nun 26 Tage alt. Gestern habe ich das erste Mal deswegen geweint.
Es passierte am letzten Tag unseres wunderbaren Italien-Urlaubs, den wir mit dem 30 Kilometer langen Ötzi-Trailrun (übrigens ein sehr lohneswerter Lauf!) bei Meran beenden wollten. Ich erinnere mich noch an jedes Detail: das kleine, stolze Mädchen, das ihre Mutter vom Rand an anfeuert, der motivierte Kommentator, der die Startrede auf gleich drei Sprachen schmettert, der nette Läufer im rosa T-Shirt, der alles mit seiner GoPro filmt und gleichzeitig Witze reißt. Es war der perfekte Abschluss unserer zwei Wochen Italien. Bis Kilometer 26. Nach fast vier Stunden liefen wir den letzten langen Downhill hinunter nach Naturns, gaben extra ein bisschen Gas, um vielleicht die Vier-Stunden-Marke noch zu knacken.
Und dann passierte es. Völlig unerwartet rutschte auf einem etwas sandigen Felsen mein linkes Bein in seltsamen Winkel zur Seite weg und ich fühlte ein unheilverheißendes „Plopp“ in meinem Knie. Ich weiß nur noch, wie ich kurz darauf mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem staubigen Boden saß, mir das höllisch schmerzende Knie hielt und langsam die Gewissheit zu mir durchsickerte „Das war nicht gut.“. Benommen bemerkte ich, dass in regelmäßigen Abständen die Läufer vorüberkamen, die wir vorhin noch überholt hatten. Was für eine Ironie des Schicksals. Man muss ihnen zugutehalten, dass jeder sich erkundigte, ob alles in Ordnung sei. Der erste Versuch aufzustehen missglückte kläglich, denn nach zwei Metern entschied sich mein Kreislauf für eine erneute Bruchlandung.
So hockte ich da, den besorgten Malte an meiner Seite, der tapfer sein eigenes Rennen beendet hatte und wartete darauf, dass mein Gesichtsfeld sich weniger drehte. Nach einer viertel Stunde wagte ich einen erneuten Anlauf und diesmal blieb ich auf den Beinen, auch wenn mein Knie immer noch arg weh tat. Uns war beiden klar, dass das Rennen an dieser Stelle für mich beendet war und so humpelte ich die letzten drei Kilometer bis zum Ziel. Da wir den letzten offiziellen Schlenker ausgelassen hatten, meldeten wir uns bei der Rennleitung als DNF. Das war er also, mein erster DNF.
Zwei Tage später saß ich beim Orthopäden, der sich mein Knie anschaute, die gängigen Tests (Lachmann-Test etc.) machte und mir erklärte, das Knie wirke stabil, aber es sei Flüssigkeit im Gelenk. Er vermute etwas am Meniskus oder eine Lappalie. Mit Erinnerung an den Unfall beschlich mich die böse Vorahnung, dass es sich wohl eher nicht um eine Lappalie handeln würde. Aber die Hoffnung stirbt bekanntermaßen ja zuletzt. Glücklicherweise war am gleichen Tag noch ein MRT-Termin frei.
Als der Arzt kurz darauf zur Nachbesprechung ins Behandlungszimmer kam, sah ich sofort an seinem Gesichtsausdruck, dass ich mir die Hoffnung mit der Lappalie wohl abschminken konnte. „Das hätte ich auch nicht gedacht, Frau Bindmann, aber es liegt tatsächlich ein vorderer Kreuzbandriss vor.“ Ich hörte seine Worte und mein erster Gedanke galt seltsamerweise unserer ersten Familienhündin, die in ihrem kurzen Hundeleben zwei Kreuzbandrisse erlitten hatte. Was das aber für mich bedeutete, konnte ich in der damaligen Situation noch gar nicht einschätzen. Der Gedanke, dass meine Sommerpläne den Stubai-Ultratrail zu laufen und danach vier Wochen in Norwegen zu pilgern, in Gefahr sein könnten, schaffte es gar nicht bis an die glasklare Oberfläche meines Verstandes. Der Orthopäde gab auch eher schwammige Informationen von sich. Er erzählte etwas von OP und konservativer Behandlungsmöglichkeit, in jedem Falle wolle er sich das Knie noch einmal ansehen, wenn der Gelenkerguss weniger geworden wäre. Davor könne man sowieso nicht groß etwas machen.
In den folgenden drei Wochen versenkte ich mich vollkommen in die Welt des Kreuzbandes. Ich las Studien, hörte Podcasts und befragte jeden, der im Entfernten mit dem Thema Kreuzbandriss in Verbindung geraten sein könnte. Im Nachhinein wusste ich, dass ein Kreuzbandriss eine Lebenszeitdiagnose ist, da es in 99% der Fälle nicht von allein zusammenwächst. Das bedeutet, dass man es entweder operativ mit einer körpereigenen Sehne rekonstruieren kann oder konservativ lernt, mit nur einem Kreuzband zu leben. Letztendlich würden in beiden Fällen ein zeitintensives Reha-Programm auf mich warten. Es ist nämlich so, dass das Kreuzband neben mechanischer Stabilität wichtige propriozeptive Eigenschaften besitzt, die nach einer Ruptur neu gelernt werden müssen.
Ich will gar nicht wissen, wie viele Stunden ich die letzten Wochen mit Grübeln verbracht habe. Ich bin kein Mensch, der gut Entscheidungen treffen kann und meine Recherche führte im Endeffekt eher dazu, dass ich noch weniger wusste, was ich tun sollte. Es gab Tage, da fühlte sich mein Knie super an und ein kleiner Funken Hoffnung keimte ihn mir auf, dass unter einer konservativen Therapie der Stubai-Trail in zweieinhalb Monaten doch möglich wäre. An anderen Tagen wollte ich am liebsten sofort operieren, um die langwierige Reha von sechs bis neun Monaten so schnell wie möglich zu beginnen. Das Warten auf den zweiten Termin beim Orthopäden war extrem nervenaufreibend. Jeden Tag erlebte ich ein Wechselbad der Gefühle aus Angst, Schuld, Wut, Hoffnung, scheinheiliger Akzeptanz und Traurigkeit.
Ich ertappte mich immer wieder bei intrusionsartigen Momenten, in denen ich den Tag des Unfalls gedanklich durchspielte und mir vorstellte, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich nicht gestürzt wäre. Wie wir enthusiastisch ins Ziel gelaufen wären, unbekümmert die Race-Atmosphäre genossen hätten und uns müde, aber glücklich bei Pizza und Eis von Italien verabschiedet hätten. Die drei Konjunktive in dem Satz sprechen für sich. Wenn ich nach solchen Momenten in die Realität zurückkehrte, fühlte ich mich immer ganz weit unten. Dann fiel es mir schwer, irgendetwas Positives zu sehen und die Zukunft erschien mir wie eine untragbare Last.
Gestern fand endlich der lang ersehnte Termin beim Orthopäden statt. Den Zahn, diesen Sommer noch in irgendeiner ambitionierten Form Sport zu treiben, zog er mir schnell, indem er mich auf potenzielle weitere Verletzungen wie einen Innenband- oder Meniskusriss hinwies, für die die Gefahr bei einem solch langen Trail sehr hoch sei. Insgesamt rate er mir bei meinem sportlichen Anspruch zu einer Rekonstruktion des Bandes, um die mechanische Stabilität wieder herzustellen. Er würde ca. 300 Kreuzbänder im Jahr operieren, das sei ein Routineeingriff, beruhigte er mich. In dem Moment blendete ich alle Gefühle aus, unterschrieb wie ferngesteuert den Aufklärungsbogen für die OP und ließ mir die sieben Rezepte für Schmerzmittel, Thrombosespritzen, Antibiotika, Orthesen, Krücken und co. erklären, die ich mir vor der OP noch besorgen müsse. In 29 Tagen ist es so weit.
Als ich kurz danach mit dem Fahrrad nach Hause fuhr, spürte ich die Tränen, die mir nun endlich über die Wangen liefen. Auch wenn mir die letzten Wochen schon mehr oder weniger bewusst war, dass die nächsten Monate nicht wie geplant verlaufen würden, fühlte sich die Endgültigkeit eines fixen OP-Termins gerade eher überwältigend als erleichternd an. Ich weinte um die Berge, die ich diesen Sommer nicht besteigen, die Trails, die ich nicht laufen und die Abenteuer, die ich nicht erleben würde. Dann weinte ich um mein Knie, dass nie mehr so sein würde wie früher und dessen Zustand sich in ein paar Wochen drastisch verschlechtern würde. Und ich weinte um die physisch und psychisch anstrengende Zeit, die mir bevorsteht und mich an meine Grenzen bringen wird.
Und dann hörte ich auf zu weinen und merkte, dass meine Seele der Gelassenheit einen Schritt nähergekommen war. Das ist jetzt mein Weg. Mein Abenteuer. In der Psychologie nennen wir das Reframing.
25.05 – 8 Wochen nach Verletzung
Die Mentale Reha
Es kommt darauf an, den Körper mit der Seele und die Seele durch den Körper zu heilen. ~Oscar Wilde
Der Zusammenhang von Körper und Geist ist heutzutage kein Geheimnis mehr. Leider wird die Psyche in der Rehabilitation nach körperlichen Verletzungen häufig vernachlässigt oder dem Patienten selbst überlassen. Keine der Physiotherapeutinnen oder Ärzte bei denen ich nach meinem Unfall war, hat sich damit auseinandergesetzt, wie sich die Verletzung auf mein psychisches Wohlbefinden ausgewirkt hat. Ich mache ihnen keinen Vorwurf deswegen. In unserem Gesundheitssystem ist es schlichtweg nicht ihr Job. Es mangelt an Zeit, Geld und Wissen, um von vorneherein neben der körperlichen eine psychische Rehabilitation zu etablieren.
Ich musste nun selbst erfahren, wie tiefgreifend die Auswirkungen einer schwerwiegenden Verletzung auf meinen emotionalen Zustand sind. Als Psychologiestudentin besitze ich ein gewisses Know-How, was die Zusammenhänge von Emotion, Kognition und Verhalten anbelangt und in einer Situation wie dieser bin ich froh darum. Es wundert mich nicht, dass viele Athleten nach einer Verletzung in Depressionen verfallen. Eine Verletzung ist nicht nur ein körperliches, sondern auch ein emotionales Trauma und die anschließende Reha ein mentaler Kraftakt. Deshalb möchte ich neben meiner körperlichen Reha ebenso meine psychische Reha dokumentieren. Es ist mir wirklich wichtig, dass die Psyche nach einer Verletzung nicht links liegen gelassen wird.
Das psychische Chaos nach einer Verletzung – oder: von der Gelassenheit
Nach einer Verletzung steht gefühlstechnisch alles auf dem Kopf. Was vorher als selbstverständlich angenommen wurde, verliert von einem Moment auf den anderen an Sicherheit. Wie schlimm ist die Verletzung? Wann kann ich damit wieder trainieren? Werde ich die Saison so laufen können, wie geplant? Operation oder doch konservativ? Wie lange dauert die Reha? Wem soll ich glauben: Arzt, Physio, Erfahrungsberichten? Soll ich mir doch lieber noch eine zweite Meinung einholen?
Die Erfahrung, die ich gemacht habe, ist, dass es leider auf keine meiner unzähligen Fragen eine zufriedenstellende Antwort gibt. Wo der Arzt „A“ sagt, meint die Physiotherapeutin „B“. Wo das Internet zu diesem tendiert, rät die Freundin, die Ähnliches erlebt hat, zu jenem.
Eine ernüchternde aber essentielle Einsicht, die mich spätestens nach drei Wochen voll Eigenrecherche, Arzt- und Physiobesuchen und Umhören im Bekanntenkreis getroffen hat, ist: „Am Ende des Tages musst du selbst entscheiden.“ Ich spreche hier vom Bereich der Hobbysportler, die nicht augenblicklich in den Op geschoben werden und ein perfekt ausgearbeiteter Rehaplan schon bereits vor dem Unfall feststeht. Ehrlich gestanden ist mir drei Wochen nach der Verletzung fast der Kopf geplatzt und ich wollte einfach nur noch eine Entscheidung treffen. Dies ist vermutlich der Grund, warum ich so schnell einen Op-Termin ausgemacht habe. Der besagte Termin wäre morgen gewesen. Richtig: „gewesen“. In den letzten vier Wochen verbesserte sich der Zustand meines Knies viel schneller, als ich erwartet hätte.
Nach nicht einmal fünf Wochen nach dem Unfall war ich wieder dreißig Kilometer joggen. Keine Schmerzen. Keine Instabilität. Das warf mich erneut in den Strudel an Fragen, die ich geglaubt hatte, mit der Entscheidung für die Op geklärt zu haben. Ich konnte nicht verhindern, dass sich ein kleines, trügerisches Fünkchen Hoffnung an die Oberfläche meiner Ratio drängte. „Vielleicht kannst du ja im Sommer doch noch laufen.“, schien es zu flüstern. Und so entschied ich, nach reichlicher Überlegung, erneuter Recherche, viel kräftezehrenden Hin und Her, aber doch zum Großteil auf mein Bauchgefühl vertrauend, die Op zu verschieben.
Niemand kann mir sagen, ob es die richtige Entscheidung war. Ich weiß, dass ich ein zusätzliches Risiko für weitere Verletzungen eingehe, wenn ich in ein paar Wochen an die Startlinie des Stubai Ultra Trails gehe. Ich weiß nicht einmal, ob ich ins Ziel kommen werden. Dies soll keine Empfehlung sein, es genauso zu machen. Jeder Körper und jede Verletzung sind anders. Was ich ausdrücken will, ist die Ermutigung, sich mit dem psychischen Chaos, was einen nach einer Verletzung anfällt, auseinander zu setzen. Verdrängen hilft nicht viel, genauso wenig wie überhastetes Entscheiden. Ich hätte mir viel Aufwand sparen können, wenn ich die Op von vorneherein später angesetzt hätte.
Gelassenheit ist ein Stichwort, dass ich hier vor Akzeptanz, Selbstwirksamkeit oder Frustrationstoleranz nennen möchte. Das ist alles wichtig. Keine Frage. Aber in den ersten Tagen und Wochen nach einer Verletzung ist die Gelassenheit eine wunderbare Hilfe, Ruhe in das mentale Chaos zu bringen. Sie fungiert wie eine Kupplung und lässt mich einen Gang runterschalten, wenn die Drehzahl vor lauter Informationen und Emotionen zu hoch schlägt. Wenn ich gelassen bin, brauche ich keine Angst vor scheinbar überfordernden Entscheidungen haben, denn ich kann auf meine Intuition vertrauen. Informationen habe ich schließlich mehr als genug. Gelassenheit ist meiner Meinung nach der erste Schritt in die bestmögliche Rehabilitation.
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