Eisig, Einsam, Ermüdend.
Touren-Quickie
15,50 Km
1.550 Hm
10h
Startpunkt Wanderung: 47.474008, 10.417025
Aussicht: 9/10
Wegmarkierung: 2/10 (Winter)
Schwierigkeit: 8/10*
(An einigen Stellen Trittsicherheit/ Schwindelfreiheit erforderlich)
Highlights
- den ganzen Weg und Gipfel allein für sich
- Rundumblick z.B. auf den Großen Daumen und das Rauhorn
- im Schnee etwas anspruchsvoller, aber schöner Grat
Lowlights
- Wegfindung im Schnee schwierig, da 90% der roten Wegmarkierungen zugeschneit sind
- Weg quert hin und wieder in den teils steilen Hang, was bei Tiefschnee unangenehm ist, wenn man den Boden nicht fühlt und den genauen Weg nicht sieht
Es ist dunkel, als wir das Haus verlassen. Und kalt. Bestimmt -10° C. Die Nacht über hat es ordentlich Neuschnee gegeben und da Sonntag ist, mache ich mir wenig Hoffnung, dass so früh morgens um kurz nach 6 Uhr bereits geräumt sein wird. Tatsächlich sind aber schon ein paar ehrenwerte Männer dabei, den besonders rutschigen Bahnübergang direkt neben unserer abschüssigen Ausfahrt von Schnee und Eis zu befreien.
Wir machen uns auf den Weg in Richtung Bad Hindelang, von dort aus wir unseren Versuch der Gaishorn-Winterbesteigung starten möchten. Die Straßen sind sehr zu meiner Beruhigung einigermaßen geräumt und ich bin erstaunt, wie viele Räumfahrzeuge in allen erdenklichen Ausführungen uns begegnen. Es wirkt, als hätten sie nur darauf gewartet, dass der erste richtige Schnee fällt, sodass sie mit eindrucksvollen Schneeschaufeln vorne und mächtigen Salzfässern hinten als unbestreitbaren Helden der Straßen aufwarten können.
Wir erreichen den Parkplatz „Auf der Höh“ relativ unbeschadet und sind bisher die Einzigen, die versuchen, auf der völlig verschneiten Fläche in eine angemessene Parkposition zu rutschen. Der Parkplatz ist abschüssig und als Malte nach hinten setzen will, um zu korrigieren, drehen lediglich die Reifen durch. Ich sende ein Stoßgebet zum dunkelgrauen Himmel, dass wir hier später ohne Fremdhilfe wieder herauskommen. Wenigstens gibt es unten noch eine Ausfahrt, sodass wir später, zumindest in der Theorie, nur noch nach unten rausrollen brauchen.
Wir ziehen schnell unsere Gamaschen an, die sich später in Anbetracht der Schneehöhe als goldwert herausstellen werden, schultern unsere Rucksäcke und marschieren los in das Schneegestöber hinein. Mir kommt es vor wie ein Winterwunderland aus einem Film. Über allem liegt eine unberührte Decke aus pulverigem Schnee und noch immer fallen sanft die federleichten Flocken von oben herab. Wenn wir nur geahnt hätten, wie sehr wir dieses unschuldige Weiß heute noch verfluchen würden…
Der Weg schlängelt sich durch einen dichten Nadelwald bergan und nach fünf Minuten bleiben wir stehen und müssen die erste Schicht ausziehen. Bei der Kälte sollte Schwitzen möglichst vermieden werden. Uns wird klar, dass es heute anstrengend wird. Denn so schön wie der Schnee ist, so anstrengend ist es, durch ihn zu laufen. Jeder Schritt kostet abhängig von der Schneehöhe zwei bis zehnmal so viel Energie.
Langsam wird es heller und hin und wieder zeigt sich sogar ein blauer Fetzen am Himmel, der irgendwo die Sonne erahnen lässt, die den schneebedeckten Wald in einem unwirklichen Rosaton glühen lässt. Manchmal bleiben wir stehen und staunen einfach. Gerade beim Aufstieg, wenn es so anstrengend ist, dass ich völlig im Fokus nur auf den nächsten Schritt achte, ist es wichtig, bewusst immer wieder stehen zu bleiben, um die Schönheit, die um einen herum passiert, nicht zu übersehen. Außerdem helfen solche kleine Pausen, den Puls zu beruhigen und die Muskulatur kurz zu entspannen.
„Bist du glücklich?“, fragt Malte, den das Bergfieber gepackt hat.
Ich nicke nur, denn in diesem Punkt verstehen wir uns ohne Worte.
Nach 1,5 Stunden und 500 Höhenmetern ziehen sich die Bäume langsam zurück und wir erreichen die Willersalpe, im Sommer eine bewirtete Hütte, nun sind alle Läden fest verschlossen, um dem Winter zu trotzen. Als wären wir in einem Computerspiel ins nächste Level gekommen, liegen ab hier gut zwanzig Zentimeter mehr Schnee und ein Weg ist nicht mehr zu erkennen bzw. wartet tief vergraben auf den nächsten Sommer. Lediglich die typischen, gelben Schilder, die an markanten Kreuzungen stehen, weisen noch die Richtung. Wir versuchen, ungefähr dem GPS-Track auf der Uhr zu folgen und schlagen uns in den Hang. Augenblicklich versinken wir knietief, manchmal sogar bis zur Hüfte, wenn wir vom richtigen Pfad abkommen. Ich schalte meinen Kopf auf Stand-By und stolpere hinter Malte hinterher, der dankenswerterweise die noch anstrengendere Spurarbeit übernimmt. Es sind ja nur 600 Höhenmeter, bis wir den Grat erreichen, der uns hinauf aufs Gaishorn führt. Nach fast vier Stunden erreichen wir einen Sattel, auf dem ein weiteres Richtungsschild gerade noch so aus einer Schneewehe herausguckt. Leider pfeift hier oben ein eisiger Wind, vor dem wir am Hang besser geschützt waren. Wie ein frostiger Biss fühlt er sich an in unseren Gesichtern. Die fünf Minuten, die wir brauchen, um unsere Steigeisen anzuziehen und etwas zu trinken, reichen völlig aus, um unsere Hände taub werden zu lassen. Malte beginnt, wie ein Bekloppter mit seinen Armen zu rudern, angeblich eine Taktik, die Durchblutung und somit Wärmeproduktion anzuregen. Tatsächlich funktioniert es bei mir sogar besser als bei ihm und nach ein paar Minuten setzt der altbekannte, pochende Schmerz ein, der signalisiert, dass das Gefühl langsam zurückkommt. Nach ein wenig Kraxelei wird die Sicht leider schlechter bis wir in einem ausgewachsenen White Out stecken. Oben, unten, rechts, links. Überall weiß. Ohne Wegmarkierungen oder irgendwelchen Anhaltspunkten in der Landschaft, wird die Orientierung zu einer hakeligen Angelegenheit. Sogar Malte, mit einem sonst sehr scharfen Sinn für die Richtung, fragt sich, ob wir überhaupt noch auf dem richtigen Weg sind. Ich spure vorneweg und halte mich entlang ein paar Zaunpfählen, die ungefähr in die richtige Richtung laufen müssten. Wo Zaunpfähle sind, kann zumindest keine Klippe sein. Der Boden ist immer noch unberechenbar, mal sinkt nicht einmal der Schuh ein, dann wieder das ganze Bein. Ich stapfe vor mich hin und verliere das Gefühl für Zeit und Raum. Als ich mich umdrehe, ist Malte nicht mehr da. Der Schock fährt mir in die Glieder. Wie lange ist er nicht mehr hinter mir? 5 Minuten? 15? 30? Mein Zeitgefühl ist völlig durcheinander. Panik durchzuckt mich und mir wird abwechselnd heiß und kalt. Sofort tauchen die schlimmsten Horror-Szenarios vor meinem inneren Auge auf. Ich schreie seinen Namen und renne meine eigene Spur zurück. Endlich kommt eine Antwort und Malte taucht hinter einem Felsbrocken auf.
„Alles gut, ich habe nur meine Handschuhe richtig angezogen.“, beruhigt er mich. Bei mir ist allerdings gar nichts ruhig. Ich kämpfe die Tränen zurück und schlucke die Panik hinunter. Am Berg ist es immer sinnvoll, abzuwägen, ob und wie viel Emotionsausdruck in der Situation hilfreich ist. Unangebrachte Panik würde mich nur Energie kosten. Und davon brauche ich gerade jedes Bisschen.
Der Hang wird nun steiler und wir erreichen eine unübersichtliche Felsformationen, die uns erneut vor das Wegrätsel stellen. Auch rote Markierungen, die manchmal aus dem Schnee heraus aufblitzen und die Route markieren, sehen wir keine. Die Sicht ist immer noch denkbar schlecht. Unschlüssig arbeiten wir uns durch den tiefen Schnee noch ein Stück weiter nach oben. Es ist gar nicht so einfach, bei eisigem Wind, bis zu den Knien im Schnee und bei einem Blick nach unten, der einen schwindelig werden lässt, einen klaren Kopf zu bewahren. Was tue ich hier eigentlich? Unweigerlich ploppt die Frage in meinem Kopf auf. Wozu begibt man sich freiwillig in solche grenzwertigen Situationen? Vermutlich, weil sie einem den Wert seiner eigenen Grenzen verdeutlichen.
Und da, endlich, erhasche ich einen Blick auf ein halb im Schnee vergrabenes Drahtseil in einer Rinne zu unserer Rechten. Wir kraxeln bis zu ihrem Einstieg und hangeln uns umständlich hinauf. Immer wieder scheint der Schnee zu halten und bricht dann im letzten Moment doch unter der Last des Fußes. Für einen Meter nach oben, rutschen wir 70 Zentimeter nach unten. Es ist unglaublich anstrengend und das Drahtseil schneidet unangenehm kalt in die Hand. Oben angekommen hält sich Malte schmerzverzerrt die Hände. „Ich brauch gerade einen Moment.“, bringt er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich bin stolz auf meine Hände, die wenigstens diesmal etwas warm geblieben sind.
Langsam arbeiten wir uns auf dem eingeschneiten Grat vorwärts, bis uns der Weg ein Stück unterhalb in den Hang führt. Es ist ein sehr gruseliges Gefühl in so steiler Lage nichts als lockeren Schnee unter Füßen zu spüren. Unsere Stöcke erreichen nicht einmal den Boden. Einmal breche ich so weit ein, dass Malte mich wieder herausziehen muss.
Wir atmen beide tief durch, als wir wieder festen Boden unter den Füßen haben. Ganz kurz reißt die Wolkenwand auf und enthüllt den Blick auf das imposante Gipfelkreuz des Gaishorns. Diese Verheißung verleiht uns noch einmal Kraft. Als wir uns das letzte Stück über den Grat dem Gipfel nähern, klart es tatsächlich auf und oben angekommen erwartet uns ein atemberaubender Blick auf die weißen Berge ringsherum. Wir jubeln und staunen und verspüren diese ganz besondere Gipfelgewissheit, warum wir diese Strapazen auf uns nehmen.
Maltes Hose ist komplett steif gefroren und knirscht, wenn er sich bewegt. Ich bin dankbar für meine Entscheidung, eine lange Unterhose drunter zu ziehen. Wir haben für den Aufstieg fast sechs Stunden gebraucht, in drei Stunden wird es dunkel und es wartet ein langer Abstieg. Abgesehen davon wird es kalt und so machen wir uns auf dem gleichen Weg nach unten, bis wir kurz darauf in Richtung Rauhorn abbiegen. Der Weg verläuft erneut unterhalb des Grates am Hang. Was nun folgt, lässt unsere gut abgebrannten Energiereserven noch einmal drastisch sinken. Wer schon einmal durch einen nicht enden wollenden Hang voll unbeständigem Tiefschnee gespurt ist, weiß wovon ich spreche. Alle paar Meter müssen wir stehen bleiben und Atem schöpfen. Der Sattel, über den der Weg schließlich hinüber und hinunter Richtung Willersalpe führt, scheint in greifbarer Nähe, aber durch das beschwerliche Vorankommen, fühlt sich die Zeit wie verlangsamt an. Man würde ja meinen, bergab wäre weniger anstrengend als bergauf. Nicht so in diesem Fall. Als wir den Sattel auf dem Grat endlich erreichen, sehen wir sogar die Willersalpe aufblitzen, an der sich der Abstieg mit dem Aufstieg von heute morgen vereinen wird. Die Sonne beginnt bereits zu sinken und so stürzen wir uns in den nächsten Hang hinein. Plötzlich löst sich ein gar nicht mal so kleines Schneebrett unter unserem Tritt und rutscht als Mini-Lawine ins Tal. Angespannt halten wir mehr Abstand, um die Stabilität der Schneedecke zu erhöhen. Unbeschadet überstehen wir den steilsten Teil und rutschten das letzte Stück sogar auf dem Hosenboden. Befreit wie Kinder lachen wir. Es ist so wichtig, auf einer anstrengenden Tour auch immer wieder positive Emotionen zu erleben und zu entwickeln, mit denen das Gehirn im Nachhinein die negativen überschreiben kann.
Gelacht hätten wir vermutlich nicht, wenn wir gewusst hätten, was uns nun leider noch völlig selbstverschuldet blühen würde. Durch eine Unachtsamkeit verlieren wir den Weg und finden uns mitten in einem Labyrinth aus dichten Latschenkiefern wieder. Immer wieder brechen wir bis zur Hüfte im Schnee ein oder verheddern uns mit den Steigeisen in den dicken Wurzeln oder bodennahen Äste, die tückisch im Schnee versteckt liegen. Ein Vorankommen ist so gut wie unmöglich. Manchmal bin ich den Tränen nahe und bezweifle, dass wir hier wieder herauskommen, bevor es dunkel wird. Das Schlimmste ist die Unberechenbarkeit jeden Schrittes. Nie weiß man, wie tief der Schnee ist und wie weit der Fuß einbrechen wird. Es ist wie Laufen auf rohen Eiern mit äußerst anstrengenden Konsequenzen. Ich bin am Ende meiner Kräfte. Der Wind, die Kälte, der Schnee und jetzt die Latschenkiefern, die unseren Energiereserven metaphorisch gesehen den Todesstoß versetzt haben. Aber wie heißt es so schön: Wenn du denkst, du bist am Ende deiner Kräfte, dann bist du erst bei 40 Prozent deines eigentlichen Potenzials. Und endlich, endlich schaffen wir es, uns aus dem unübersichtlichen Nadelwald herauszuarbeiten und den richtigen Weg zu finden. Erleichtert stolpern wir den Rest hinunter zur Willersalpe, wo wir die Steigeisen aus und die Stirnlampen anziehen. Verglichen zum Rest, ist es von hier ein Kinderspiel, die restlichen 500 Höhenmeter bis zum Parkplatz abzusteigen. Langsam lässt die Anspannung und das Adrenalin nach und wir werden wieder gesprächiger. Wie sollte es anders sein, reden wir über Essen, das in den letzten zehn Stunden eindeutig zu kurz gekommen ist. Ich will gar nicht wissen, wie viel Energie wir heute verbraucht haben bei fast zehn Stunden unter null Grad bei diesen Schneeverhältnissen.
Völlig erschöpft aber glücklich erreichen wir das Auto, dass einsam und zugeschneit auf uns wartet. Mit der Sitzheizung auf höchster Stufe und unserem letzten Brötchen mit hartgefrorenem Käse, der zwischen den Zähnen knirscht, in der Hand, lassen wir die Tour Revue passieren. Es ist erstaunlich, wie schnell das Gehirn Schmerz und Anstrengung vergisst. Wir fühlen uns schon wieder fast bereit, die nächste Tour zu planen. Es ist ein außergewöhnlicher Zustand, wenn man nach einem so langen Tag wie heute das erste Mal wieder im Warmen sitzt. Dann wird einem langsam bewusst, was man heute geschafft hat und um welches Abenteuer die Seele nun reicher ist. Es ist wie ein Rausch und ich will es immer wieder erleben.
Ich glaube, dass mir dieses Gefühl kein anderer Sport in der Weise geben könnte. Dort draußen, wo ich mich mit allem, was ich bin, dem Berg aussetze, wo ich zurückgeworfen bin auf meine eigenen Grenzen und mein Sein in seiner reinsten Form.
Verpflegung, Snacks und co.:
Frühstück: Overnight-Oats mit Blaubeeren, gerösteten Mandeln und Leinsamen
Snacks: Laugenbrötchen mit Käse, Studentenfutter, Energiegels
Danach: restliches Laugenbrötchen mit gefrorenem Käse
*Einschätzungen beruhen auf meiner subjektiven Wahrnehmung, NICHT auf offiziellen Schwierigkeitsskalen
Comment
[…] Pendant zur „Hinteren Schafswanne“. Ab hier überschneidet sich der Abstieg mit dem vom Gaishorn. Wie zur Belohnung traut sich sogar die Sonne hinter den Wolken hervor und bildet einen sanften […]