Gnadenlos. Gipfelig. Grenzenlos.
Touren-Quickie
20km
2.200hm
18h
Startpunkt: Bordierhütte
Via Dirruhorn (4.035m) – Hohberghorn (4.219m) – Stecknadelhorn (4.241m) – Nadelhorn (4.327m)
Aussicht: 10/10
Schwierigkeit: ZS+ (Schweizer Hochtouren-Skala), UIAA: II-III
Hier gehts zur genauen Routenbeschreibung des Nadelgrat.
Highlights
- Gratklassiker in den Alpen (wer mehr gratige Inspiration sucht: schau gern hier beim Jubigrat vorbei)
- 4×4000 auf einen Streich
- trotz der Länge und Ausgetztheit bleibt die Kletterschwierigkeit im leichteren Bereich (II-III)
Lowlights
- langer, teils brüchiger Zustieg zum Grat
- keine Ausstiegsmöglichkeit auf dem Grat
- aufgrund der Länge und Höhe nicht zu unterschätzen!
Grenzen. Das ist das Erste, das mir im Nachhinein an diese Tour in den Sinn kommt. Gestern habe ich das Grenzgebiet in mir erreicht. Dieses Land in mir, das felsig und dunkel und stürmisch ist. Dessen unbekannte Pfade ihrer Beschwerlichkeit mit Neugier und Enthusiasmus trotzen. Ich weiß nie, was dort auf mich wartet. Ich weiß nur, dass ich früher oder später in dieses Land aufbrechen muss. Dann, wenn mir meine Grenzen zu eng geworden sind.
Als der Wecker um viertel vor zwei in der Nacht klingelt, bin ich schon seit über einer Stunde wegen Magenkrämpfen wach und habe zwei bis drei Stunden geschlafen. Wenn es hochkommt. Mir ist übel. Und mit übel meine ich kein leichtes Unwohlsein oder Aufregung, die sich ignorieren ließe. Beim Frühstück mit den anderen Bergsteigern in der warmbeleuchteten Hütte schaffe ich eine Scheibe Brot und ein bisschen Müsli. Für meine Verhältnisse nicht viel.
„Der Schweizer Wetterdienst prognostiziert sicheres Wetter bis 15 Uhr!“, kündigt die Hüttenwirtin an, die gleich, wenn alle Nadelgrat-Anwärter aus dem Lichtkreis der Bordierhütte verschwunden sind, wieder in ihr warmes Bett kriechen kann. Wie gerne würde ich mit ihr tauschen. Während mein Magen krampft, ziehe ich mir Helm, Stirnlampe und Gurt an und trete in die klare Nacht. In der Ferne zucken Blitze am Horizont und geben ein faszinierendes Schauspiel. Ich bin dankbar, das Monstrum von einem Grat, den Niklas, Malte, Tim und ich heute begehen wollen, noch nicht sehen zu können. Dann wäre mir vermutlich das Herz endgültig in die Hose gerutscht. Der Nadelgrat ist mit einer Schwierigkeit von AD+ (Ziemlich schwierig +) im mittleren Schwierigkeitsbereich der Hochtourenskala eingestuft. Seine Tücke liegt weniger im Kletteranspruch (nur bis zum III Grad) als der Tatsache, dass vier 4000er Gipfel erklettert werden müssen und man sich eine beträchtliche Zeit lang über 4000m Höhe befindet. Gnade dem, der nicht ausreichend akklimatisiert ist!
Die ersten 200 Höhenmeter müssen wir absteigen, um über einen Ausläufer des Riedgletschers zur Flanke des Grats zu gelangen. Ich bin schweißnass und mir ist immer noch übel. Meine Erfolgsaussichten für den heutigen Tag sinken mit jedem schleppenden Schritt. Ich schließe einen Deal mit mir: Sollte es mir in den nächsten zwei Stunden bis zum Einstieg auf den Grat nicht eindeutig besser gehen, werde ich umdrehen müssen. Alles andere wäre unverantwortlich und würde die anderen und mich in unnötige Gefahr bringen. Es gibt auf dem gesamten Grat bis zum Nadelhorn keine Möglichkeit des Abstiegs. Das heißt, die Optionen eines Abbruchs auf dem Nadelgrat sind ziemlich begrenzt. Um genau zu sein, „Mit-der-Bergrettung-im-Helikopter-ausgeflogen-werden“-begrenzt. Wie unangenehm es wäre, wegen „Erschöpfung“ von der Bergrettung abgeholt werden zu müssen, weil ich meine Kräfte überschätzt habe.
Nachdem wir uns ein schmales, grasiges, nördlich zum Hang verlaufendes Band hinaufgearbeitet haben, geht es über Geröll in Serpentinen hinauf. Es ist dunkel, steil und bröselig. Ehrlich gesagt habe ich den Überblick verloren, wo genau in dieser unwirtlichen Geröllhölle ich mich befinde. Die einzigen Orientierungspunkte sind lediglich die hellen Pünktchen der Stirnlampen der Seilschaften vor uns und die Sterne am Himmel. Die nächsten anderthalb Stunden bringe ich damit zu, abwechselnd meine Schritte bis vier zu zählen und meine Übelkeit auf einer Skala von 1-10 zu bewerten. Anfangs habe ich bei 5-6, jetzt pendele ich mich bei 4 ein. Sollte ich noch einmal über 5 kommen, drehe ich um.
Wir gehen hier nicht am Seil. Jeder steigt in seinem eigenen Tempo. Tim vorneweg. Malte und ich. Und hintendran Niklas, dem zu allem Überfluss ein Stock abgebrochen ist. Als ich Malte von meinen Bedenken erzähle, scheint die Übelkeit direkt auf eine 3 zu sinken. Dieses psychosomatische Miststück. Je näher wir dem Gipfel des Chli Dirruhorns (3.889m) kommen, desto unschöner wird der Gedanke des Umdrehens. Das ganze lose Zeug wieder hinunter? Um es in Niklas Worten zu sagen: „Der Berg will uns umbringen. Der fällt auseinander.“
Ich beschwöre meinen Körper, die Übelkeit zu besiegen. Und tatsächlich. Je heller der Streifen am östlichen Horizont wird, desto weniger denke ich über mein körperliches Befinden nach. Irgendwo auf dem unübersichtlichen Teil zwischen dem Galenjoch und Chli Dirruhorn, wir sind inzwischen etwa 3-4h unterwegs, geht endlich die Sonne auf. Ein unvergleichliches Spektakel. Wie von einer unaufhaltbaren Macht gezogen steigt sie hinter scherenschnittartigen Bergsilhouetten empor. Die höheren Gipfel des Doms im Süden und Weisshorns im Westen werden von Minute zu Minute wie von einem goldenen Zuckerguss überzogen, der dickflüssig über ihre Flanken fließt. Der gleißende Ball trifft den nachtblauen Himmel mit einem feuerrot-gleißenden Kuss und brennt uns in den Augen nach den Stunden in der Dunkelheit. Es fühlt sich an, als hätte ich noch nie etwas so Schönes gesehen. Obwohl mein Atem schnell geht, bin ich für den Moment innerlich ganz ruhig, ja, andächtig im Anblick dieses Schauspiels. Wie könnte ich an einem anderen Ort sein wollen als hier? An dem der Sonnenaufgang, der Himmel und der Berg den perfekten Dreiklang bilden? Ich schwöre mir, dass ich nicht müde werden werde, neue Worte zu finden, um Sonnenaufgänge in den Bergen zu beschreiben. Solch vollkommene Schönheit verdient den Reichtum vieler Worte.
Während die Sonne sich zu ihrer Gänze über den Horizont schiebt, legen wir eine kurze Frühstückspause ein. Ich bin inzwischen bei einer optimistischen 1,5 und traue mich, ein kleines Rosinenbrötchen zu essen. Die Energie ist dringend nötig. Kurz darauf müssen wir ein Stück abseilen. Damit hätte sich die Frage mit dem Umdrehen auch erledigt. Mental lege ich einen Schalter um. Ab jetzt fokussiere ich meine gesamte Kraft auf das Vorwärtskommen auf diesem enormen Grat. Eine Crux des Nadelgrats ist definitiv der mit sechs Stunden nicht zu unterschätzende, brüchige Zustieg zum Chli Dirruhorn, ab dem der eigentliche Grat beginnt.
Das erste Stück Grat zum Dirruhorn (4.035m) ist leider ebenfalls noch bröckelig und tückisch mit teils losem Gestein. Niklas und ich klettern ein Stück vorneweg, als die Wegfindung unübersichtlich und an einer Stelle kurz heikel wird. Ich bin hochkonzentriert, prüfe jeden Griff, bevor ich ihn belaste. Niklas ist dicht hinter mir. Natürlich könnte er mich nicht auffangen, sollte ich stürzen, aber es gibt mir trotzdem Sicherheit, jemanden dort zu wissen. Ehe wir uns versehen, stehen wir schon auf dem Gipfel. Was für ein Gefühl. 4000er Nr. 1! Doch das Nadelhorn erscheint noch in unendlich weiter Ferne.
Malte und Tim lassen auf sich warten. Als nach 20 Minuten plötzlich ein lauter Felssturz in unmittelbarer Nähe abgeht, schießt mir plötzlich das Adrenalin in jede Nervenfaser. Auch Niklas ist beunruhigt und klettert ein Stück zurück. Nichts. Keine Antwort auf unser Rufen. Bevor ich allerdings richtig panisch werde, tauchen die beiden hinter der Felskante auf. Es stellt sich heraus, dass sie bei besagter unübersichtlicher Stelle mit Seil gesichert haben.
Malte ist verärgert, dass Niklas und ich seilfrei geklettert sind. Ich halte dagegen, dass wir auch den zeitlichen Aspekt im Hinterkopf behalten müssen. Wir sind jetzt schon die langsamste Seilschaft. In Situationen wie diesen prallen unterschiedliche Risikowahrnehmungen aufeinander. Der Grat zwischen Sicherheit und Schnelligkeit ist manchmal sehr schmal. Aber eine Diskussion vom Zaun brechen, können wir hier oben auch nicht.
Weiter geht es hinab ins Dirrujoch, dass wir nach einer halben Stunde Abklettern erreichen. Dort legen wir zum ersten Mal Steigeisen an. Über ein vereistes Schneefeld geht es steil die Flanke des Hohbärghorns (4.219m) hinauf. Niklas steigt vor und setzt alle 20-30 Meter eine Eisschraube. Wir folgen ihm langsam am Seil. Meine Atmung rast. Jeder Schritt ist doppelt so anstrengend wie normalerweise.
„Wollt ihr noch eine Eisschraube?“, fragt Niklas kurz vor Ende des Eisfelds.
„Ich brauche keine.“, rufe ich als nächste in der Reihe. Tatsächlich fühle ich mich mit dieser Steilheit noch ziemlich wohl.
„Ich weiß, dass du keine Angst hast.“, entgegnet er und dreht trotzdem noch eine ins Eis.
Ob ich keine Angst habe? Mit Sicherheit nicht. Der Nadelgrat jagt mir eine Heidenangst ein. Aber mein Wunsch und meine Begeisterung, ihn zu überwinden, sind einfach größer. Dann rückt die Angst auf die Ersatzbank und kommt nur bei wirklich relevanten Situationen zum Einsatz.
Kurz darauf nehmen wir den scharfkantigen Gipfelaufschwung des Hohbärghorns in Angriff. 4000er Nr. 2 geschafft! Aber auch auf diesem Gipfel genießen wir die Aussicht nur kurz. Die Wolken im Westen türmen sich immer bedrohlicher auf und ich denke an die Prognose der Hüttenwirtin von potenziellen Gewittern ab 15 Uhr. Der Abstieg ins Hohbärgjoch ist dankenswerterweise kurz und der Aufstieg auf den dritten Gipfel, das Stecknadelhorn (4.240m), mit Kletterstellen im II-III Grad weniger anspruchsvoll als erwartet. Von hier aus sieht das Nadelhorn, das vorher noch unerreichbar schien, tatsächlich zum Greifen nah aus.
Wir legen eine kurze Snackpause ein und gestatten uns, das erste kleine bisschen Druck von uns abfallen lassen. Der Großteil des Grats ist geschafft und die Schlüsselstellen sollten hinter uns liegen. Wie haben wir uns getäuscht.
Die Odyssee beginnt. Der schneebedeckte Grat durchs Stecknadeljoch ist schnell überquert. Doch dann stellt uns die Routenführung vor eine tückische Entscheidung. Entweder wir queren durch die steile, vereiste Ostflanke des Nadelhorns auf den Normalweg (Spuren deuten darauf hin, dass zumindest ein paar unserer Vorgänger diese Variante gewählt haben) oder wir überklettern ein unübersichtliches Türmchen, dass uns den Blick auf das dahinterliegende Nadelhorn (4.327m) versperrt. Nach kurzer Überlegung entscheiden wir uns für das Türmchen. Die eisige Flanke erscheint uns als die unsicherere Variante mit im Zweifel aperen Stellen und nur wenig bis gar keinen Sicherungsmöglichkeiten. Das Türmchen entpuppt sich als kleiner Zeitfresser. Die Schwierigkeit der Kletterei lässt sich nur schwer einschätzen, weshalb wir wieder am Seil klettern. Niklas, derjenige mit der meisten Erfahrung, übernimmt aus Zeitgründen die Führung.
Schließlich klettern wir in ein kleines verschneites Joch ab. Der Gipfel des Nadelhorns liegt vielleicht noch 30-50 Meter über uns. Doch außer Niklas, der vorausgeklettert ist, um die weitere Wegfindung auszukundschaften, erreicht keiner von uns heute noch den Gipfel Nr. 4. Während Malte und Tim als Letzte vom Türmchen abklettern und das Seil aufnehmen, wage ich mich vorsichtig über das steiler werdende Eis Richtung Nadelhorn. Und da ist sie plötzlich, die Angst. Mit nur einem Eispickel erscheint mir das blanke Eis zu heikel. Die Ostflanke des Nadelhorns fällt mehrere hundert Meter steil zum Riedgletscher ab. Wenn ich hier abrutsche, war es das. Diese Erkenntnis trifft mich so plötzlich wie die Tatsache, dass ich nicht gesichert bin. Vorsichtig taste ich mich auf das Joch zurück.
Gemeinsam mit Tim und Malte entscheiden wir uns für eine etwas tiefere Querung durch die Ostflanke auf den Normalweg. Auch diese Querung ist für mich eine mentale Herausforderung. Vielleicht liegt es an der Erschöpfung, dem verfrühten Glauben, das Schlimmste geschafft zu haben oder meiner Abneigung gegen steile, apere Eisfelder, aber diese Querung lässt mich die ganze Aktion hinterfragen. Ich schüttele den Kopf und versuche, die Angst auf ein funktionales Maß zu senken. Hier muss jeder Schlag mit dem Eispickel und jeder Zacken der Steigeisen sicher sitzen. Malte ist direkt hinter mir und fordert mich auf, konzentriert zu bleiben.
„Nicht mehr lange!“, feuert er mich an. Trotzdem spüre ich seine Angst um mich, was sich auf mich überträgt. Verdammt, ich stehe hier nur auf den vorderen Zentimetern der Zacken meiner Steigeisen. Wenn das… Kein „Wenn“ mehr, ermahne ich mich. Du musst dem Material und dir vertrauen. Immer nur der nächste Schritt. Der ist gar nicht so angsteinflößend.
Endlich erreichen wir den Normalweg und treffen dort auf Niklas, der vom Gipfel des Nadelhorns hierher abgestiegen ist. Jetzt bricht kurz Chaos aus.
„Ich weiß nicht, was ihr macht, aber ich steige jetzt ab.“, ruft Niklas und betrachtet sorgenvoll die dunklen Wolken, die die Lenzspitze im Süden bereits vollständig verhüllen und sich wie ein aufgewühlter Ozean am Windjoch brechen. Auch wenn Niklas uns die potenzielle Entscheidung gelassen hat, das Nadelhorn noch mitzunehmen, ist die Entscheidung eigentlich klar. Wir steigen ab. Keine Diskussion. Kurz wird weiter über den folgenden Abstieg diskutiert, der ebenfalls steil und aper ausschaut. Dann nimmt Niklas mich unter seine Fittiche und lotst mich über die steilen Eisfelder. Ich bin dankbar für seine ruhige Führung. Die Querung vorhin hat mich enorme Kraft gekostet. Weniger körperlich als mental.
Schließlich wird der Grat weniger steil und ist von mehr Schnee bedeckt, was den Schritten mehr Halt gibt. Ich mache drei Kreuze, als wir auf dem Windjoch ankommen, einem breiteren Sattel, von dem aus sich der Grat auf das Ulrichshorn (3.924m) aufschwingt. Normalerweise müssten wir die zusätzlichen Höhenmeter zum Ulrichshorn in Kauf nehmen und dann über den Normalweg weiter absteigen. Laut Hüttenwirtin ist der Abstieg auf den Riedgletscher vom Windjoch seit zwei Wochen nicht mehr begangen worden. Stichwort: vereist. In Anbetracht des Wetters wollen wir es trotzdem versuchen. Zur Not seilen wir ab.
Letztendlich kostet es uns trotzdem eine gute Stunde, den flacheren Teil des Riedgletschers zu erreichen. Im letzten steilen Stück seilen wir uns ab, da zwei große Spalten in der Flanke klaffen. Meine Handschuhe sind zur Gänze durchweicht und ich bin froh, noch ein dickeres Ersatzpaar dabei zu haben. Der schneebedeckte Gletscher breitet sich wie ein weiß erstarrtes Meer vor uns aus. Es gibt keine Spuren, die auf andere Seilschaften hingedeutet hätten. Zügig laufen wir in Richtung Nordosten in der Hoffnung, auf den Normalweg zu stoßen. Meine Nase fängt plötzlich an zu bluten. Rot vermischt sich mit dem schmutzigen Weiß des Gletschers. Vermutlich die Kälte. Die Wolken werden in der Zwischenzeit immer dunkler in unseren Rücken. Ich traue mich gar nicht mehr, zurückzublicken. Erste Hagelkörner fallen vom Himmel.
Plötzlich schreit Malte auf. Abrupt bleiben wir stehen. Er hängt mit einem Bein bis zur Hüfte in einer Spalte, dessen Schneebrücke nicht gehalten hat. Und deshalb geht man niemals ohne Seil über einen Gletscher.
„Malte in der Spalte!“, ruft Tim und wir müssen trotz allem ein bisschen lachen.
„Könnt ihr mich vielleicht erstmal rausziehen?“, ruft Malte, dem das Herz verständlicherweise bis zum Hals schlägt. Ich will nicht wissen, wie ich mich erschrocken hätte, wenn plötzlich der Boden unter meinen Füßen wegbricht.
Der Hagel hat unterdessen zugenommen. Erbsengroße Körner knallen auf meinen Helm, den ich froh bin, nicht ausgezogen zu haben. Der Wind nimmt zu und ich meine ein leises Grollen hinter uns zu hören. Als hätte diese Tour nicht genug von uns gefordert. Nicht auch noch Gewitter. Wir hasten weiter. Ich bin hochangespannt. Wir laufen hier als einzige Erhebungen weit und breit über Unmengen gefrorenen Wassers. Genau das, was man bei Gewitter machen soll. Es ist ein unerträgliches Gefühl, den Naturgewalten dermaßen ausgeliefert zu sein. Der rationale Teil in mir analysiert interessiert, wie das Adrenalin die Schmerzen in meinen Füßen und Blasen betäubt und einen Energieschub nach dem anderen durch meinen Körper schickt.
Schließich erreichen wir den östlichen Rand des Riedgletschers. Trotzdem bleibt die Wegfindung zunächst schwierig. Immer wieder versperren unüberwindbare Spalten den Weg, sodass wir auf den brüchigen Fels, der an das Eis anschließt, ausweichen müssen. Vom Balfrin und Bigerhorn poltern in regelmäßigen Abständen Gesteinsbrocken, teils in Kühlschrankgröße, auf die Gletscherausläufer und komplettieren das düstere Szenario. Das hat nichts mehr mit sonnigen Genusskletterfotos zu tun. Das ist die brutale andere Realität der Berge, der wir egaler nicht sein könnten. Hier werden Kräfte freigesetzt, gegen die wir ein Nichts sind. Trotzdem berauscht mich der Anblick. Meine Nervenenden kribbeln. Es ist nicht ich gegen den Berg. Es ist der Berg über, unter, auf, um, mit, in mir.
Endlich erreichen wir das Ende des Gletschers. Ich atme tief durch. Wir binden uns aus dem Seil und ziehen die Steigeisen aus. Es scheint ein bisschen heller zu werden. Das schlimmste Wetter scheint vorüber zu sein. Die letzten 300 Höhenmeter Abstieg zur Bordierhütte sind mit Steinmännchen markiert. Mein erschöpftes Gehirn traut sich nicht, an den drohenden Talabstieg zu denken. Die Verlockung, einfach noch eine Nacht in der Hütte zu bleiben, ist groß. In der Hütte wärmen wir uns kurz auf. Die Jungs trinken ein Bier. Ich eine Kräuterlimo. Das Adrenalin von vorhin fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen und ich tue es ihm gleich.
„Also, wenn ihr heute noch in Tal wollt, dann gehen wir jetzt.“, unterbreite ich den Jungs, bevor mein letztes bisschen Willenskraft sich im gemütlichen Matratzenlager verkriecht. Fröstelnd brechen wir auf. 8 Kilometer und 1300 Höhenmeter Abstieg. In der Ferne brauen sich erneut die Gewitterwolken zusammen. Blitze zucken am Horizont. Während sich die Jungs über Essen unterhalten, laufe ich ein Stück vorweg. Getrieben einzig von dem Wunsch, irgendwo anzukommen, zu essen und zu schlafen. Als wir die Baumgrenze erreichen, fängt es an zu regnen. Egal. Nach 18 Stunden auf den Beinen, ist alles irgendwann egal. Schließlich erreichen wir das Örtchen Gasenried, in dem wir das Auto geparkt haben. Sind wir wirklich erst gestern in sengender Hitze hier losgewandert?
Mir kommt es vor wie ein halbes Leben. Ich fühle mich seltsam unruhig. Bilder und Gefühle schießen mir durch den Kopf. Nacht. Hinauf. Zweifel. Schritt. Für. Schritt. Sonne. Hoffnung. Beflügelt. Klettern. Anspannung. Endlosigkeit. Ausgesetzt. 4000. Himmel. Fels. Angst. Leben. Sterben. Seilschaft. Verbundenheit. Sicherheit. Gewitter. Gefahr. Gletscher. Grenzen. Überschreiten. Hinab. Entspannung. Glück. Leidenschaft. Leben.
Es wird dauern, bis mein Kopf zur Ruhe kommen wird. Das ist okay. Das ist wichtig. Je länger der Verarbeitungsprozess dauert, desto intensiver wird die Erinnerung.
Verpflegung, Snacks und co.:
Frühstück: 1,5 Scheiben Brot mit Marmelade, kleines Schälchen Müsli, Tee (ca. 500kcal)
Snacks: Rosinenbrötchen, Schokolade, Gummibärchen, Müsliriegel (ca. 2000 kcal)
Danach: Pizza 🙂
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