Rau. Rechtschaffen. Risikoaffin.
Touren-Quickie
18 Km
1.600 Hm
11h
Startpunkt Wanderung: 47.474008, 10.417025
Aussicht: 3/10 (da Nebel)
Wegmarkierung: 2/10 (Winter)
Schwierigkeit: 8/10*
(An einigen Stellen Trittsicherheit/ Schwindelfreiheit, sicherer Umgang mit Eispickel und ggf. Seil erforderlich)
Highlights
- den ganzen Weg und Gipfel allein für sich
- schöne Gratkletterei im I und II Grad
- Wegfindung im Abstieg vereinfacht, da es derselbe ist wie vom Gaishorn
Lowlights
- Wegfindung bei winterlichen Verhältnissen erschwert
- viele zu querende Schneefelder, abhängig von Lawinenlage nicht zu empfehlen
Es ist 7:30 Uhr als wir vom Parkplatz „Auf der Höh“ in Richtung des noch nicht sichtbaren Gipfels des Rauhhorn aufbrechen. Im Gegensatz zum Dezember, als wir aufs benachbarte Gaishorn geklettert sind, liegt kein Schnee und die Temperaturen beinahe frühlingshaft. Es verleitet gerade, die heutige Tour zu verharmlosen, aber wäre unser Gehirn in der Lage gewesen, einen Funken der Anstrengung zu antizipieren, die heute noch auf uns warten würde, wären wir vielleicht gar nicht aufgebrochen. Somit stiefeln wir munter drauf los an einem jungen Pärchen vorbei, dass im Begriff ist, ihre Skier auf abenteuerliche Weise an ihren Rädern zu befestigen. Auf die Frage, wo sie hinwollen, lachen sie und meinen, so weit bis eben genug Schnee läge. In Anbetracht der kargen Schneeverhältnisse müssen sie vermutlich ziemlich weit das Tal hinaufstrampeln. Wir folgen ebenfalls zunächst der asphaltierten Straße bis zu einem Wasserwerk, das mit einer anschaulichen Tafel erklärt, dass seine Schrauben 200 Liter pro Sekunde befördern. Der Blick nach oben offenbart wie einen fernen Traum den hoffentlich höchsten Punkt der heutigen Tour. Wir schauen andächtig und eine Demut erfasst uns angesichts dieser Dimension: Dort oben, nebelverhangen der schroffe Gipfel des Rauhhorns; wir hier unten, die Schuhe kratzen über Asphalt, dichte Nadelbäume ringsherum.
Die Route knickt auf einen steinigen Pfad ab, der sich steil durch den Wald nach oben schlängelt. Ging es vorher nur allmählich voran, dauert es nun nicht lange und wir haben die ersten 500 Höhenmeter in den Beinen. Als sich die Bäume zurückziehen, machen sie dem Schnee Platz, der von nun an vorherrschend ist. Durch die milden Temperaturen ist der Schnee weich, schwer und vor allem nass. Wir folgen dankbar bereits ausgetretenen Spuren durch einen sanft geschwungenen Kessel auf einen Hang zu, an dem sich Latschenkiefern und anderes Gestrüpp in den Boden krallen. Da wir nicht mehr auf den GPS-Track achten, sondern den Spuren gefolgt sind, finden wir uns plötzlich in steilem Gelände wieder, in dem jeder Schritt durch eine kleine Kraftprobe bedeutet. Dank des nassen Schnees merke ich, dass meine Socken langsam aber sicher feucht werden. Hervorragend. In Hoffnung auf Besserung ziehen wir die Schneeschuhe an, die wir in weiser Vorrausicht mitgenommen haben. Allerdings klappt es bei dieser Hangneigung mit den klobigen Dingern nur unwesentlich besser und Malte, der vorspurt, bleibt alle paar Meter stehen und schnauft wie eine Dampflok. Ich folge ihm unteressen vergleichsweise mühelos auf den ausgetretenen Spuren und entscheide mich, ihn nicht dafür anzukeifen, dass er mich in regelmäßigen Abständen mit einer Ladung nassen Schnees duscht. Als wir endlich oben ankommen und wieder auf dem korrekten Track sind, hat Malte sichtbar die Nase voll und ich beschließe, vorauszugehen.
Obwohl der Weg bereits durch Spuren erkenntlich ist, ist es wie Russisch Roulette, welcher Schritt trägt und welcher nicht. Wir stapfen eine Weile durch dieses tückische Schneechaos, als sich uns der Blick auf die Flanke des Rauhhorns eröffnet, auf welcher der Grat bis hinauf zum Gipfel verläuft. Mir bleibt der Mund offenstehen, als ich sehe, was für ein Schneebrett vor nicht allzu langer Zeit dort abgegangen sein muss. Wie eine Wunde klafft dort ein riesiges Stück Fels in der ansonsten weißen Fläche. Der Weg führt keine drei Meter unterhalb der letzten Schneebrocken der Lawine vorbei und ich muss schlucken. Was einmal unten ist, kann uns wenigstens nicht mehr treffen. Trotzdem wird mir unwiderruflich bewusst, wie wenig Einfluss ich auf das habe, was hier draußen passiert. Wir erreichen einen unebenen Sattel, auf dem ein Schild halb begraben im Schnee den Weg aufs Rauhhorn mit alpinen Gefahren ausweist. Leider enden hier auch. Wir hatten gehofft, dass eventuell bereits andere den Aufstieg in dieser Jahreszeit gewagt hätten. Ich sehe es in Maltes Gesicht arbeiten. Ob er daran denkt, umzukehren? Der Blick nach oben ist nicht sonderlich vielversprechend. Die Route führt von nun an auf dem Jubiläumsweg ein Stück unterhalb des Grats entlang. Im Sommer kein Problem. Im Winter bedeutet das, immer wieder durch steile, schneebedeckte Hänge zu queren. Wir beschließen, es trotzdem zu wagen. Obwohl Malte vorspurt und ich eigentlich lediglich seinen ausgetretenen Tritten zu folgen brauche, ist mir äußerst unwohl zumute. Ich mag dieses Gefühl nicht, in so steilem Gelände keinen Boden unter den Füßen zu spüren. Die Lawinenstufe liegt mit 2 relativ niedrig, aber ich atme trotzdem durch, wenn wir schneefrei Stellen erreichen.
Ein Stück entfernt turnt eine ganze Horde Gämsen herum. Würden sie hämisch grinsen können, würden sie genau dies tun. Mittlerweile sind wir seit fast sechs Stunden unterwegs. Und der Gipfel ist, so nebelverhangen er auch sein mag, längst noch nicht in Sicht. Endlich erreichen wir die „Hintere Schafswanne“, den Sattel, auf dem der Jubiläumsweg auf die östliche Seite des Rauhhorns abknickt, wir aber auf dem Grat bleiben wollen. Es sind noch knapp 300 Höhenmeter bis zum Gipfel und das Gelände wird steiler und felsiger, sodass wir manches Mal auch Hand anlegen müssen. Auf einem kleinen Vorsprung beschließen wir, nun auch Gurt und Seil anzulegen. Auch wenn es nur Kletterei Im I und II Grad ist, ist die Sicht immer noch bescheiden und viele Stellen arg verschneit und unberechenbar. Beim Blick auf den Boden fährt es mir durch Mark und Bein. Dort liegt ein abgetrennter Oberkiefer irgendeines Raubtiers, an dem noch Reste von Schnauze und Schnurrhaaren haften. Die Szenerie könnte aus einem düsteren Wikingerstreifen stammen. Fehlen nur noch Odins Raben. Zuerst denke ich, ich habe Halluzinationen, dann sehe ich Maltes angewiderten Blick. Wie um alles in der Welt, ist der hier hochgekommen? Und welches Tier tut so etwas? Die abergläubische Seite in mir, will dies als schlechtes Omen deuten, aber jetzt umzudrehen, wäre nicht wirklich das kleinere Übel. Außerdem beginnt nun der hoffentlich spaßigere Teil ohne hinterlistige Schneefelder. Malte klettert voraus und legt das Seil immer wieder um hangabgeneigte Felsvorsprünge. Im Falle eines Abrutschens würde das Seil auf diese Weise blockieren. Das Klettern über den Grat lässt mich in einen Flow verfallen, bis zu dem Moment, wo wir erneut durch knietiefen Schnee queren müssen. Mit dem Eispickel hacke ich beinahe trotzig tiefe Löcher, eins nach dem anderen. Ich merke, dass ich mental abbaue. Es ist jetzt 15 Uhr, wir sind seit fast acht Stunden unterwegs und in dieser Suppe habe ich völlig das Gefühl für Zeit und Raum verloren. Der Gipfel könnte gleich hinter dem nächsten Vorsprung warten oder aber noch meilenweit entfernt sein. Der Gedanke an den Abstieg drängt sich mir unaufhaltsam auf.
„Wenn wir für den Abstieg auch acht Stunden brauchen, dann wäre das eher ungünstig.“, stelle ich lapidar fest. Dann wäre es nämlich halb eins in der Nacht. Aber dann, ganz plötzlich, taucht der Gipfel in nur zehn Metern vor uns auf. Innerlich jubele ich. Auch wenn die meisten Unfälle auf dem Abstieg passieren, wirkt der Gipfel immer wie ein mentaler Motivationsboost. Da wir aber buchstäblich gar nichts sehen, beißen wir nur schnell in ein Brötchen, schießen ein Foto und machen uns auf der nördlichen Seite des Gipfels an den Abstieg. Keine zwanzig Meter unterhalb wartet die nächste Crux. Ein drahtseilversicherter Kamin von circa sechs Metern. Bergab sowieso unangenehmer als bergauf, ist er zusätzlich noch völlig verschneit. Malte steigt voraus und sichert zusätzlich mit zwei Exen, die ich gleich darauf wieder einsammele. Was von oben unüberwindbar ausschaut, stellt sich im Klettern selbst dann häufig als gar nicht so schwer heraus. Rückwärts arbeiten wir uns den Grat hinunter, bis er wieder flach genug zum aufrecht gehen wird. Aber wir haben es noch nicht geschafft. Die nächsten Schneefelder wollen gequert werden. Ich bin einen Moment unachtsam und übersehe, dass der Schnee zu festgefroren ist für eine richtige Stufe. Mein Schuh rutscht weg und ich gleich mit. Es ist ein schrecklicher Moment des Nicht-Wissens. Dieses Gefühl wie in einem Freizeitpark im Free-Fall Tower, wo man für einen Augenblick die Kontrolle über sich verliert. Mit dem Unterschied, dass mich kein Sitz mit Sicherheitsgurt hält.
„Eispickel rein, Eispickel rein!“, schreit Malte und ich tue, was ich kann, was in dem eisigen Schnee gar nicht so einfach ist. Endlich finde ich Halt. Ich bin vielleicht einen Meter gerutscht, aber diese Sekunde hat gereicht, meinen Puls auf das Doppelte beschleunigen zu lassen. Selbst wenn ich mich nicht hätte fangen können, das Seil, das Malte um einen Felsen geworfen hat, hätte mich nach spätestens zwei Metern gestoppt. Trotzdem bin ich zittrig auf den Beinen. Scheiße, Annabelle, du musst besser aufpassen. „Was wäre, wenn…“. Der Satz geistert düster in meinem Kopf umher. Ich zwinge mich, mein Gedankenrasen herunterzufahren, meinen Puls zu kontrollieren und nur an den nächsten Schritt zu denken. Es ist nichts passiert.
Ich mache trotzdem drei Kreuze, als wir endlich die „Vordere Schafswanne“ erreichen, das nördliche Pendant zur „Hinteren Schafswanne“. Ab hier überschneidet sich der Abstieg mit dem vom Gaishorn. Wie zur Belohnung traut sich sogar die Sonne hinter den Wolken hervor und bildet einen sanften Kontrast zu der nebligen Düsterwelt, in der wir die vergangenen acht Stunden geklettert sind. Wir lachen erleichtert und machen die ersten Fotos von heute im Sonnenlicht. Die warmen Strahlen in Maltes Gesicht sind wie Hoffnung und Erleichterung in einem und das Schönste, was ich heute gesehen habe. Die schroffen Felsformationen und dramatischen Wolkenfetzen, die wie Geister an den Bergflanken schweben sind beeindruckend, imposant, ja, aber nicht schön. Die Sonnenstrahlen hier auf dem Gesicht dieses Menschen, der das gleiche Abenteuer wie ich heute in seine Geschichte des Lebens schreibt, die sind wahrhaftig schön.
Die kurzweilige Romantik kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir noch immer einen anstrengenden Abstieg vor uns haben. Bis zur Willersalpe geht es mehr oder weniger gerade den Hang hinunter. Zunächst sehr steil arbeiten wir uns Meter für Meter nach unten. Es ist verdammt anstrengend und bald steht mir der Schweiß auf der Stirn. Bei jedem Schritt breche ich bis zum Knie oder darüber hinaus in den schweren Schnee. Meine Schuhe und Socken sind derweil völlig durchnässt. Zumindest wird durch die Anstrengung mein rechter Fuß, der zwischenzeitlich gänzlich taub gefroren war, wieder besser durchblutet. Es ist immer wichtig, sich auch über die kleinen Dinge zu freuen. Trotzdem merke ich, dass ich auf einen mentalen Tiefpunkt zusteuere. Ich breche bis zum Anschlag mit dem linken Bein ein und bleibe erstmal stecken. Ich wackele und rüttele. Nichts. Malte wägt zwanzig Meter weiter unten vermutlich gerade seine Chancen ab, noch einmal zu mir aufsteigen zu müssen. Ich zerre und buddle, aber es ist wie verhext. Irgendwie muss mein Fuß doch auch da reingekommen sein? Nach einigen Minuten steht es Annabelle 1; Schnee 0, und ich schleppe mich die restlichen Meter den Hang hinunter. Wir binden uns aus dem Seil aus, den ab nun ist jegliche Absturzgefahr gebannt. Mit Schneeschuhen gewappnet machen wir uns auf in das gefürchtete „Latschenkiefern“-Labyrinth, in dem wir uns im Dezember hoffnungslos verstiegen hatten. Mit der Devise, nun wirklich ganz genau auf den Weg zu achten, schaffen wir den Abstieg zu der in dieser Jahreszeit stillgelegten Willersalpe in der Hälfte der Zeit vom letzten Mal. „Was essen wir eigentlich heute Abend?“, fragt Malte. Es ist immer nur eine Frage der Zeit, bis dieser Satz fällt.
Als kurz nach der Willersalpe der Wald beginnt ziehen wir die Schneeschuhe aus, denn es liegen nur mehr vereinzelte Reste. Ich merke, dass ich in den letzten zehn Stunden nur eine Brezel gegessen habe und schiebe mir schnell einen Müsliriegel zwischen die Zähne. Die Anspannung und das Adrenalin lassen langsam nach und wir geraten in Plauderlaune. Die Eindrücke der letzten Stunden kreisen in meinem Gehirn wie Puzzleteile, die zusammengesetzt werden wollen.
„Teilweise habe ich mich wirklich unwohl gefühlt auf diesen Schneefeldern.“, meine ich.
„Manchmal habe ich auch mit dem Gedanken gespielt, umzudrehen.“, antwortet Malte.
„Schön, dass wir uns erst jetzt davon erzählen, dass wir Muffensausen hatten.“
Wir reden über Angst am Berg und im Allgemeinen. Angst ist grundsätzlich gut, da sind wir uns einig. Sie hält uns von Dummheiten und Leichtsinnigkeit fern und ist letztendlich eine Lebensversicherung. Zuviel von ihr vor allen an den falschen Stellen führt allerdings zur Handlungsunfähigkeit. Ich denke an meinen Ausrutscher auf dem Schneefeld vorhin. Mein Körper hat physisch eine deutliche Angstreaktion gezeigt. Objektiv gesehen ist aber nichts passiert und die Angst war in diesem Moment hinderlich für einen weiteren sicheren Abstieg. Mit psychologischen Techniken wie Downtalking und Atmung ist es mir gelungen, die physische Reaktion in den Griff zu bekommen. Ich bin der Meinung, dass Bergsteigen eine gute Möglichkeit ist, seine Psyche kennenzulernen und zu trainieren. Durch die Konfrontation mit aversiven Emotionen wie Anstrengung, Langeweile oder Angst ohne die Möglichkeit, sie durch externe Hilfsmittel wie beispielsweise Fernsehen zu verdrängen, kann ich sie viel tiefgreifender verstehen und lernen, sie selbstständig zu regulieren.
Es dauert nicht lange und wir treten aus dem Wald hinaus. In einiger Entfernung können wir schon unser Auto erkennen. Es ist halb sieben Uhr abends als wir es erreichen. Elf Stunden sind vergangen, seit wir aufgebrochen sind. Elf Stunden in denen mein Leben ein Stück weit mehr zum Abenteuer wurde. Und ich möchte nicht, dass es jemals anders ist.
Verpflegung, Snacks und co.:
Frühstück: Overnight-Oats mit Blaubeeren, gerösteten Cashews, Cranberries und Leinsamen
Snacks: Laugenbrezel mit Käse, Nutellabrötchen, Müsliriegel, Snickers
Danach: Tortelli mit Brokkoli-Tomaten-Sauce
*Einschätzungen beruhen auf meiner subjektiven Wahrnehmung, NICHT auf offiziellen Schwierigkeitsskalen
**Streng genommen ist der Winter am 20. März (also genau heute) vorbei; da die Bedingungen aber immer noch ziemlich winterlich waren, bezeichne ich die Tour trotzdem als „Winter-Überschreitung“
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