Durcheinander. Dreitausend Höhenmeter. Demzufolge diffizil.
Touren-Quickie
40 Km
3.100 Hm
10h
Startpunkt Wanderung: Tegelberg Talstation (47.570947, 10.754415)
Aussicht: 9/10
Laufbarkeit: 3/10
Schwierigkeit: 3/10* (ansich eher die Länge der Tour, die die Schwierigkeit ausmacht)
Highlights
- „schönstes“ Schloss Deutschlands (Schloss Neuschwanstein)
- 6 Gipfel auf einer Tour
- viele Einkehrmöglichkeiten (Tegelberghaus, Berggasthaus Bleckenau, Säulingshaus)
- abwechslungsreiches Gelände (die ein oder andere drahtseilversicherte Stelle erfordert Handeinsatz!)
Lowlights
- insbesondere am Wochenende viel Verkehr
- wenig laufbares Terrain (keine „schnelle“ Runde)
- hohe Parkgebühr von 12€ für den ganzen Tag (man spart sogar 8€, wenn man direkt die 12€ zahlt)
Die Nacht im Zelt war, wie Nächte im Zelt eben sind, wenn man keine harten Isomatten, für sämtliche Geräusche durchlässige Zeltwände, nächtliches Frieren und morgendlichen Treibhauseffekt gewöhnt ist, so mittelmäßig erholsam. Wäre dies ein Bericht übers Zelten, würde ich mich vermutlich noch ein wenig weiter darüber auslassen, warum ausgerechnet die Menschen mit dem lautesten Organ meinen, nachts um halb zwei den gesamten Campingplatz mit ihren Geschichten beglücken zu müssen. Ganz zu schweigen von den leidvollen Diskussionen mit seinem Schweinehund, ob man dringend genug pinkeln muss, um den 200 Meter langen Weg zur Toilette in Kauf zu nehmen, die nur dem Zweck dienen, das unvermeidliche Schälen aus dem Schlafsack um zehn Minuten hinauszuzögern. Sollte man allerdings unbeschadet und bestenfalls ohne den Zeltnachbarn zu wecken aus dem viel zu kleinen Eingang gekraxelt sein, könnte es passieren, dass man von einem funkelnden Übermaß an Sternen überrascht wird. Und während um einen herum wie eine Decke die allumfassende Friedlichkeit des Schlafes liegt, wird es einem scheinen, als leuchteten sie in diesem Moment für einen ganz allein. Dann wird man sich in seinem seligen Dämmerzustand fragen, ob man vielleicht doch noch träumt und der Weg zur Toilette kommt einem nur halb so weit vor. Und generell hat das Zelten ja auch seine wunderschönen Seiten, davon abgesehen, dass es für Studenten wie mich ein spontanes Wochenende in den Bergen erschwinglich macht. So gibt es zum Beispiel wenig Vergleichbares wie einen frisch aufgebrühten Kaffee aus der angeschlagenen Alu-Tasse mit Bergmotiv, den man in kleinen Schlucken schlürft, während die allmählich aufgehende Sonne langsam den Tau auf der Zeltwand trocknet und die Kälte der Nacht aus den Gliedern treibt.
Dies soll aber wie gesagt keine Geschichte über das Zelten werden, sondern über einen anstrengenden Tag in den Schwangauer Hausbergen, bei dem ein Strafzettel, sechs Gipfel, ein Goldie und vor allem viele Höhenmeter mit von der Partie waren. In Anbetracht des nahenden Stubai Ultratrails haben Malte und ich uns heute vorgenommen, die 3000 Höhenmeter-Marke zu knacken. Etwas, was ich bisher noch nie getan habe. Aber es gibt für alles ein erstes Mal und ich versuche an solche Dinge immer mit einer gewissen Naivität zu gehen. Dann wirken solche „Marken“ weniger angsteinflößend und nicht bereits im Vorhinein wie etwas, das ich vielleicht nicht schaffen könnte.
Das Wetter verspricht gut zu werden, als wir statt wie geplant um 7 um 8 Uhr am Parkplatz der Tegelbergbahn starten. Der Plan ist, den Tegelberggrat später der Höhenmeter willen ein zweites Mal hochzulaufen, um dann mit der Bahn (es empfiehlt sich, im Vorhinein hier zu schauen, wie die Fahrtzeiten sind) den Abstieg zu sparen. Es sollte anders kommen, was wir zu der frühen Stunde natürlich noch nicht ahnen konnten.
Die ersten zwei Kilometer geht es gemütlich am Pöllat entlang in Richtung des berühmten Schloss Neuschwanstein, dass mit seinen weiß leuchtenden Mauern einen imposanten Anblick abliefert. Trotz der frühen Stunde sind bereits einige Touristen unterwegs, die die morgendliche Frische und Ruhe vor dem späteren Ansturm genießen. Im Außenbereich des noch geschlossenen Schlossrestaurants schimpft eine dunkelhaarige Kellnerin auf italienisch lautstark in ihr Telefon. Das Gekeife will so gar nicht zu der still anmutenden Schönheit dieses Ortes passen.
„Oh Gott, mit so einer Frau könnte ich nicht zusammenleben.“, stöhnt Malte als wir vorbei sind.
Ich enthalte mich diesbezüglich eines Kommentars. Zudem habe ich ganz schön mit meinem Rucksack zu schleppen, der neben drei Litern Wasser, Verpflegung für den gesamten Tag sowie sonstige Notwendigkeiten wie eine Regenjacke enthält.
An einer etwas größeren Kreuzung biegen wir auf einen Pfad ab und überqueren die eindrucksvolle Marienbrücke, von der aus man einen hervorragenden Blick auf den Pöllatfall auf der einen und das Schloss Neuschwanstein auf der anderen Seite hat. Kurz male ich mir aus, wie es wohl wäre, in einem solchen Schloss zu wohnen. Bei dem Gedanken, 200 Räume und 6000 Quadratmeter Innenfläche sauber halten zu müssen, verwerfe ich den Gedanken allerdings schnell. Der Pfad wird nun schmaler und windet sich über waldige Serpentinen in die Höhe. Augenblicklich nimmt die Menschendichte ab und das Zwitschern der Vögel und unser Keuchen sind bald das einzige Geräusch. Ob es an dem ungewöhnlich schweren Rucksack liegt, daran, dass ich in der zweiten Zyklushälfte bin und PMS grüßen lässt oder an den technischen Wegbedingungen; ich kann mein Herz jetzt schon vor Anstrengung pochen hören. Und das bei nicht einmal 500 Höhenmetern. Ich blende solch negative Gedanken einfach aus und ackere mich weiter bergauf.
Der Tegelberggrat ist wirklich ein Highlight mit seiner dramatischen Mischung aus grasigen Hügelkuppen voll farbenfroher Alpenblumen und schroffen Felsformationen, die wie drohende Finger aus der Erde ragen. Leider machen wir keine Fotos, weil wir in anfänglicher Euphorie flott Höhenmeter gut machen wollen und glauben, später noch einmal und vermutlich wesentlich langsamer hier vorbeizukommen. Nach fast zwei Stunden erreichen wir endlich den Tegelberg-Gipfel, der zunächst gar nicht als solcher zu erkennen ist. Das Gipfelkreuz wirkt ziemlich verloren an der Kreuzung vor dem Zaun des Tegelberghauses. Vielmehr wirkt er wie ein Plateau, auf dem sich zwei Restaurants, die Gipfelstation der Bergbahn und ein Abflugplatz für Paraglider und co. drängen. Dementsprechend voll ist es auch.
Zwei Mädels fragen uns, wie der Tegelberggrat zu gehen sei, weil der Weg von oben aus anscheinend gesperrt ist. Wir versichern, dass es mit ausreichender Trittsicherheit und ein bisschen Kraxelvermögen kein Problem darstellen sollte. Dann laufen wir nach einer kurzen Snackpause links am Tegelberghaus vorbei ein kleines Stück bergab. Lustigerweise kommt uns dieselbe Dreiergruppe Jungs entgegen, die wir unten am Schloss schon überholt hatten. Wir grüßen uns mit diesem typischen „Was für ein Zufall“-Lächeln. Kurz darauf überqueren wir ein kleines Wiesenstück, bevor es durch den Wald hinauf zum Latschenschrofen geht. Zugegeben ein eher unspektakulärer Gipfel, der seinem Namen alle Ehre macht. Um möglichst viele Höhenmeter zu generieren, habe ich bei der Routenplanung allerdings alles mitgenommen, dessen Höhenlinien eine konische Form vermuten ließ.
Zurück laufen wir denselben Weg bis hinauf zum Tegelberg-Plateau (ich weigere mich hier bewusst, es „Gipfel“ zu nennen.), auf dem wir uns nun rechts halten und den Branderschrofen in Angriff nehmen. Von der Tegelbergbahn in einer dreiviertel Stunde zu erreichen, ist er ein beliebtes Ziel für Familien mit Kindern in allen Größen, Pärchen mit Sneakern und Klettersteiggänger, denen der Aufstieg über den Gelbe-Wand-Steig noch nicht gereicht hat. Vorsichtig schlängeln wir uns durch die Massen und dürfen uns immer wieder anhören wie „schnell“ wir und „unfit“ sie doch seien und dass man „die Sportler vorbeilassen“ müsste. Es mag ein wenig zynisch klingen, aber nach dem zehnten Kommentar fühle ich mich leider immer noch nicht fitter.
Kurz vor dem Gipfel trauen wir unseren Augen kaum und können das riesige glockenblumenförmige Etwas zunächst nicht einordnen, dass ein Mann dort in verschiedenen Winkeln in die Luft streckt. Als wir die Kamera in der anderen Hand entdecken, ergibt der Blitzschirm (ja, die Teile heißen wirklich so) plötzlich Sinn. Die Szene wird nicht weniger skurril, als wir sein Motiv entdecken, einen anzugtragenden Glatzkopf mit einem knatschgrünen Kletterseil um die Brust geschlungen. Die Kombi ist so wild, dass wir kurzfristig nicht anders können, als zu gaffen und uns zu fragen, was in Gottes Namen das Ergebnis darstellen soll.
Maltes zugegeben eher schwacher Vorschlag ist ein frischgebackener Bergführer, der Fotos für seine Webseite macht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich kein Bergführer in solch lächerlicher Aufmachung zum Affen machen würde und tippe eher auf Versicherungsmakler. Kopfschüttelnd klettern wir an dem Duo vorbei und stehen kurz darauf auf dem Gipfel, an dem wir doch tatsächlich die Jungs von vorhin wieder treffen, die gerade im Begriff sind abzusteigen. Unser Gruß fällt diesmal schon fast freundschaftlich aus.
Allzu lange verweilen wir nicht und machen uns auf dem Weg nach unten, vorbei am Fotografen, der gerade seine Ausrüstung sortiert. Vom durchtrainierten, leicht verwegenen Aussehen her sieht er eher aus, als würde er normalerweise Fotos von extremen Expeditionen in der Arktis machen und nicht von rundlichen Dandys auf überlaufenen Sonntagsgipfeln. Sollte ich heute einen Hang zum Zynismus besitzen, so bitte ich dies zu entschuldigen. Die Anstrengung und PMS hat mir das Hirn vernebelt.
Kurz vor dem Tegelberghaus holen wir „unsere“ Jungs ein, die darüber staunen, wie schnell wir sind. Haha. Wenn die wüssten, wie ich mich fühle. Mit einem augenzwinkernden „Bis später!“ biegen wir scharf links ab und entfernen uns aus dem Dunstkreis Tegelberg. Nach Südwesten laufen wir über einen leicht abfallenden Steig in Richtung Ahornspitze, ebenfalls ein eher unbekannter Berg, der sich mit nicht ganz 1800 Metern zwischen dem Tegelberg-Komplex und dem Hohen Straußberg behaupten muss. Allerdings finde ich den Namen so toll, dass wir uns den kurzen Anstieg, der trotz seiner Kürze ziemlich knackig ist, nicht nehmen lassen.
Wir sind auf dem Abstieg kurz vor der Weggabelung, als uns doch tatsächlich die altbekannte Jungstruppe entgegenkommt. Diesmal bleiben wir stehen und unterhalten uns ein bisschen länger mit ihnen. So erfahren wir, dass sie ebenfalls noch auf den Hohen Straußberg möchten, aber nicht mehr auf den Säuling. Den wollen sie morgen in Angriff nehmen. Grinsend verabschieden wir uns mit dem Gedanken, dass wir sie bestimmt später bei ihrem Aufstieg auf den Hohen Straußberg noch einmal wiedersehen werden.
Der Weg zieht sich nun cirka zwei weitere Kilometer hügelig durch den Wald bevor wir erneut von ihm abzweigen und den etwa 200 Höhenmeter langen Anstieg auf den Hohen Straußberg beginnen. 200 Höhenmeter auf etwas über einem Kilometer sind ein Wort, vor allem wenn die ersten 700 Meter eher flach verlaufen. Wir brauchen fast eine halbe Stunde, durch das unwegsame Gelände bergauf zu kraxeln. Der Pfad windet sich über blockiges Gestein, ein Schneefeld und schlussendlich durch eine gemeine, schottrige Rinne voll tückischem Geröll, bevor es über ein kurzes Stück grasbuckligen Grat zum Gipfelkreuz geht. Von einem tatsächlichen Weg ist hier nicht mehr viel zu sehen.
Am höchsten Punkt sind bereits ein paar Männer in ein Gespräch vertieft und wir setzen uns ein Stück abseits auf einen Vorsprung. Zur Stärkung beißen wir in ein paar salzige Tuc-Cracker mit Sour Cream & Onion Geschmack. Für mich ein absoluter Gamechanger. Ein vorwitziger Rabe beäugt uns dabei ganz genau. Während Malte noch kurz sitzen bleibt, begebe ich mich an den Abstieg, da ich ohnehin viel langsamer als er bin und mir schon vor der halsbrecherischen Schotterrinne graut. Am Ende des kurzen Grates, wo der Pfad steil nach links abzweigt, sehe ich die Männergruppe, die anscheinend über den richtigen Weg diskutiert. Ich geselle mich zu ihnen und schaue auf meiner Uhr und dann auf meinem Handy nach. Leider ist mein GPS hier nicht genau genug und ich bin somit kurz selbst überfragt, da hier alles so ein bisschen, aber nichts so richtig wie ein Weg ausschaut. Glücklicherweise erscheint Malte oben am Hügelkamm und leitet uns alle wieder auf den rechten Weg ein Stück weiter nordwestlich.
Der Abstieg ist genauso tückisch, wie ich ihn mir vorgestellt hatte und ich taste mich äußerst vorsichtig durch das lose Geröll hinunter. Bei diesem Untergrund gibt es keine Garantie, nicht zu rutschen, egal wie achtsam man den Fuß setzt. Die Kunst besteht vielmehr im „Richtigen Ausrutschen“, wenn man das so betiteln kann. Ich bin froh, wieder einigermaßen festen Boden unter den Füßen zu haben. Trotzdem ist weiterhin Konzentration gefragt, denn jetzt beginnt der erste lange Downhill von knapp 800 Höhenmetern bis zum Bleckenau-Gasthaus und der Fritz-Putz-Hütte des DAV. Während wir auf dem letzten Teil des Abstiegs die Beine endlich mal rollen lassen können, kommt mir der Gedanke, dass wir unsere Jungs gar nicht mehr getroffen haben.
„Diese Banausen“, sage ich zu Malte, „haben sich einfach das Geröll gespart.“
„Vermutlich war der Gedanke an ein kaltes Radler im Tal einfach zu verführerisch.“, antwortet er und ich kann sehen, wie ihm selbst dabei das Wasser im Mund zusammenläuft.
Inzwischen ist es nach halb drei und wir seit mehr als fünfeinhalb Stunden unterwegs. Die Wahrscheinlichkeit, in zweieinhalb Stunden den knapp 1000 Meter hohen Anstieg auf den Säuling, danach den Downhill von über 1000 Höhenmetern ins Tal und dann erneut die 800 Höhenmeter über den Tegelberggrat zur Bergstation zu schaffen, um dort wie geplant um 17 Uhr die letzte Gondel zu bekommen, erscheint mir ziemlich utopisch. Mental stelle ich mich bereits darauf ein, dass es wohl ein längerer Tag wird. Die ersten 400 Höhenmeter auf den Säuling verlaufen gnädigerweise durch einen schattigen Wald und sind nicht allzu steil, weshalb mein Puls die Chance hat von 160 auf 150 runter zu gehen. Das ist ein Punkt, der mir, ehrlich gesagt, ein wenig Sorge bereitet. Ich habe das Gefühl, mein Herz rast und ist unverhältnismäßig schnell. Ob es an der Hitze, zu wenig Flüssigkeit und Nahrung, meiner zweiten Zyklushälfte oder daran liegt, dass wir am Anfang zu schnell waren, jetzt raubt der hohe Puls mir bedrohlich die Energie.
Irgendwann zweigt der Weg auf einen noch steileren Trail ab. Der sonnengelbe Wegweiser weist auf weitere 1 Stunde und 45 Minuten bis zum Säuling hin. Ich stöhne innerlich auf, als es so unwegsam wird, dass wir tatsächlich die Hände mit zur Hilfe nehmen müssen. Die Sonne knallt unbarmherzig und der Schweiß tropft mir in Verbindung mit Sonnencreme in die Augen, was höllisch brennt. Ich komme mir unglaublich langsam vor. Gefühlt alle zehn Meter schaue ich auf die Uhr, nur um festzustellen, dass ich nur zehn Höhenmeter weitergekommen bin. Ich bin eigentlich nicht der Typ dafür in freier Wildbahn laut Musik laufen zu lassen, aber jetzt zücke ich mein Handy und schalte leise meine aktuelle Lieblingsmusik von Novo Amor an. Ich versuche, mich in den sanften Klängen zu versenken und nicht auf mein pochendes Herz zu achten. Als ein Wanderer von oben entgegenkommt, mache ich verschämt die Musik noch leiser, da ich es normalerweise selbst nicht leiden kann, wenn jemand in den Bergen meint, für Beschallung sorgen zu müssen. Allerdings handelt es sich hier nicht um Techno und ich brauche gerade wirklich ein ganz kleines bisschen Extra-Motivation.
Endlich, als ich schon nicht mehr damit gerechnet habe, erreichen wir den Säuling-Sattel und nehmen die letzten Höhenmeter in Angriff. Der Blick auf die Uhr heitert mich etwas auf, als ich sehe, dass wir trotz allem nur eine Stunde statt wie angegeben 1:45h gebraucht haben. Erschöpft lasse ich mich neben Malte vor das Gipfelkreuz fallen. Der Wind bläst mit einem Mal kräftig und wir ziehen unsere Windjacken über. Im Süden bäumen sich bedrohlich dunkle Wolken am Horizont, unter denen es bereits zu regnen scheint. Mit mulmigem Gefühl hoffe ich, dass es noch dauert, bis sie uns erreichen oder in eine andere Richtung wegziehen.
In Anbetracht der späten Stunde erscheint unsere ursprüngliche Planung immer unrealistischer. Darüber hinaus wird unser Wasser zunehmend knapp und würden wir wie geplant den gleichen Weg nach Norden wieder absteigen, kämen wir bis zum Tegelberghaus an keiner geeigneten Verpflegungsstelle vorbei. Nach einer kurzen Lagebesprechung entscheiden wir uns, den Abstieg nach Süden zu wählen und noch in das Säulingshaus einzukehren, dass etwa eine halbe Stunde unterhalb des Gipfels am Hang liegt. Unser neuer Plan sieht vor, dann nach Westen hin den Pilgerschrofen zu umrunden, den man nur kletternd erreichen kann und dann in Richtung Schloss Neuschwanstein abzusteigen. Dann wollen wir schauen, wie viel uns noch für die 3000 Höhenmeter fehlt und gegebenenfalls noch auf den kleinen Hausberg über der Tegelberg-Talstation laufen.
Sobald wir den Gipfel hinter uns gelassen haben, lässt der Wind merklich nach und wir fangen beinahe sofort an zu schmelzen unter den atmungsunfähigen Jacken. Vorsichtig tasten wir uns das steile, schwierige Stück bis zum Säulingshaus. Es erscheint uns wie der Himmel, wie es dort einladend zwischen ein paar schattigen Bäumen steht und mit kühler Holunderschorle und salziger Brotzeit lockt. Auf seinen Eingangsstufen thront, in hellem Goldweiß, ein großer Hund, der uns aufmerksam beäugt. Wir nähern uns langsam, während ich innerlich die ganze Palette von „Oh mein Gott, ist der süß.“ bis zu „Ich muss ihn auf jeden Fall streicheln.“ von mir gebe. Als wir ihn erreichen, erhebt er sich und wedelt vorsichtig mit dem Schwanz. Ich kann nicht anders und lasse mich umständlich auf die Knie nieder. Während ich selig das seidige, helle Fell kraule und eine kalte Schnauze behutsam gegen mein Bein drückt, sind für ein paar Minuten alle Strapazen vergessen.
Leider kann man nur bar bezahlen und wir haben nur knapp über zwanzig Euro dabei. Für den Wirt muss unser Versuch, unseren angeschlagenen Gehirnen die komplexe Rechnung der Preise von zwei Schorlen, einem Kasbrot und einem Marillenstrudel abzuverlangen, recht erbärmlich vorgekommen sein. Schließlich kommen wir darauf, dass der Strudel wohl eher nicht mehr drinnen ist und einigen uns, das Brot zu teilen. Während wir die dick mit gutem Bergkäse belegte Stulle esse und ich bete, dass mein Magen den hohen Fettanteil verträgt, stelle ich mit Erleichterung fest, dass die dunklen Wolkenberge im Süden weitergezogen sind und wir wohl verschont bleiben.
Enstpannt machen wir uns nach der Stärkung auf den Weg, der sich nun den Hang querend über Geröll und Wurzeln nach Westen um den Pilgerschrofen windet. Leider müssen wir auf der Nordseite nochmal 100 Meter aufsteigen, bevor der lange Downhill ins Tal beginnt. Egal, sage ich mir, schließlich machen wir das hier hauptsächlich für die Höhenmeter. An einer glatten Stelle im Fels entdecken wir die Einstiege für ein paar Kletterrouten auf den Pilgerschrofen. Mit 8a und 8b ist der Gipfel anscheinend eher den fortgeschrittenen Kletterern vorbehalten. Durch den Wald geht es nun bergab, vorbei an der Wildsulzhütte, wo der Weg sich mit dem nordseitigen Abstieg vom Säuling vereint. Wir bleiben kurz stehen, da Malte seine Schuhsohlen richten muss. Beim Weiterlaufen meint er plötzlich lachend: „Du machst immer diese eine Bewegung, wenn wir weiterlaufen.“ Dabei imitiert er das Festziehen eines nicht-vorhandenen Pferdeschwanzes. „Sozusagen der Annabelle-Signature-Move“. Perplex muss ich lachen und versuche mich an die Bewegung zu erinnern. Interessant, was ihm so auffällt.
Irgendwann trifft der Weg auf eine Forststraße und wir bewegen uns mit fliegenden Beinen auf das Tal zu. In einer Kurve bietet sich ein atemberaubender Blick auf das Schloss Neuschwanstein. Bei genauerem Hinsehen fällt uns allerdings auf, dass genau in der Sichtschneise die Bäume gerodet sind. Das wäre zugegebenermaßen ein wenig traurig, wenn ausschließlich für den Blick der Wald abgeholzt wurde. Als gäbe es nicht genügend Aussichtspunkte für dieses Schloss.
Je weiter wir absteigen, desto wärmer wird die Luft, obwohl wir schon bald nach sechs Uhr abends haben. Am Fuß des Berges füllt Malte seine Filterflasche an einem Bachlauf, die wir für den Notfall eingepackt haben, sollte uns das Wasser ausgehen. Leider tropft das Wasser aus diesem Ding nur quälend langsam, sodass ich danach fast mehr Durst habe als vorher. Mit der Sonne im Rücken laufen wir nun im Tal entlang auf unseren Startpunkt zu, den wir aber trotz des langen Tages noch einmal links liegen lassen. Uns fehlen tatsächlich noch ein paar hundert Höhenmeter für die 3000 und da wir als Läufer eine gesetzte Challenge nicht einfach so aufgeben können, laufen wir noch auf die 1.172 Meter hohe Hornburg, einen vergleichsweisen kleinen Hügel nördlich des Tegelbergs.
Mit langem Blick beäuge ich die ausgelassenen Menschen, die sich um die Tische der Alpe Reith scharen und ein wohlverdientes Kaltgetränk und Käsespätzle genießen. Bevor ich länger über diesen ungerechten Zustand nachdenken kann, kaue ich auf meinem letzten Stück Haferriegel herum. Mein Mund ist so trocken, dass ich ihn fast nicht hinunter bekomme, aber ich zwinge mich zu schlucken. Ich schleppe jetzt kein überflüssiges Gramm auf meinem Rücken da hinauf.
Zunächst über einen Wurzelweg, dann über Asphalt und schließlich nochmal durch den Wald stapfen wir unermüdlich voran. Oben angekommen bricht ein kurzer Streit aus, wo denn nun der tatsächliche Gipfel sei, aber schließlich finden wir ihn ein wenig tiefer liegend als der eigentliche höchste Punkt. In goldenes Abendlicht getaucht breitet sich die Landschaft vor uns aus: Im Süden die sanft gewellten Felder, durchbrochen von glitzernden, blauen Augen, dem Bannwaldsee und dem riesigen Foggensee. Im Norden und Westen im Gegenlicht ganz unwirklich heben sich die Silhouetten der Gipfel, über die wir heute gelaufen sind, vom leuchtenden Himmel ab. Andächtig lassen wir die Szene auf uns wirken und hätte ich noch genügend Flüssigkeit in mir, hätte ich vermutlich eine Träne verdrücken müssen.
Ganz angefüllt von der Schönheit dieses Augenblicks vergehen die drei Kilometer bis zum Parkplatz wie von selbst. Beim Anblick des Autos werde ich mit einem Schlag in die Realität zurückgeholt.
„Scheiße, haben wir heute morgen eigentlich ein Parkticket gekauft?“, rufe ich aus.
Maltes zweifelnder Blick bestätigt meinen Verdacht. Oh Mist, die in Bayern sind hier bestimmt streng mit sowas. Tatsächlich prangt ein unübersehbarer Strafzettel an der Windschutzscheibe. Wegen unerlaubten Parkens schulden wir dem Verkehrsamt Schwangaus nun 20 Euro Mahngebühr. In Anbetracht der Tatsache, dass der Parkschein selbst auch zwölf Euro gekostet hätte, können wir schnell darüber lachen.
Verdreckt, müde aber mit viel Freude im Herzen stoppe ich die Uhr endgültig für heute, die tatsächlich die Zehn-Stunden Marke geknackt hat. 40 Kilometer und 3000 Höhenmeter. Laut Malte seien 66 Kilometer und 4.700 Höhenmeter nun der nächste logische Schritt. Davon will ich kurzfristig allerdings noch nichts wissen. Ich bin gerade einfach glücklich damit, das kalte Iso-Getränk, dass wir kurz vor Ladenschluss noch beim ortsansässigen Supermarkt erstanden haben, zu schlürfen und die übrig gebliebenen Buchstaben-Kekse zu essen
Verpflegung, Snacks und co.:
Frühstück: Porridge mit Nektarine, Nüssen, Cranberries und Erdnussbutter (ca. 700kcal)
Snacks: Gels, Müsliriegel, Milchbrötchen, Tucs, Gummibärchen, Brotzeit auf der Alm (ca. 1500kcal)
Danach: Dinkelspätzle mit Käse und Gemüse (Frei nach dem Motto: Keep it simple!)
*Einschätzungen beruhen auf meiner subjektiven Wahrnehmung, NICHT auf offiziellen Schwierigkeitsskalen
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