Inhaltsverzeichnis
Race-Quickie
55 Km
3.500 Hm
9h 46min
Startpunkt Tschirgant Sky Run: Sportzentrum Imst
Organisation Start & Ziel: 8/10
Wegmarkierung: 9/10
Wegstrecke: 10/10
Verpflegungsstationen: 8/10
Hier geht´s zur Anmeldung für 2025!
Prolog
Es ist 18:59 Uhr als wir nach fast sieben Stunden Fahrt auf dem Parkplatz des Sportzentrums Imst eintrudeln. Der Stau am Fernpass in Verbindung mit einer Tankanzeige, die innerhalb von fünf Minuten von 70 Kilometer auf 40 verbleibende Kilometer gesunken ist, hatte die Stimmung im Auto sowie meine Herzratenvariabilität in den Keller schießen lassen.
„Wir müssen auf jeden Fall tanken. Das wird sonst wirklich eng bis Imst!“ Ich. Leicht panisch.
„Nein, das reicht locker. Auf der anderen Seite geht es ja wieder runter. Wart´s ab, gleich sind wir wieder bei 100 Kilometer.“ Mein Freund, grundsätzlich optimistisch bei diesen Dingen.
„Wenn wir liegen bleiben, dann läufst du zur nächsten Tankstelle UND kümmerst dich darum, dass wir unsere Startnummern kriegen.“ Ich. Genervt, ungeduldig und frustriert.
Natürlich sind wir nicht liegen geblieben und wir schaffen es eine Minute vor offizieller Schließzeit des Rennbüros nach Imst. Als wir um die Ecke des Sportzentrums hetzen, ist von großer Aufbruchsstimmung nichts zu spüren. Im Gegenteil. Die Jungs beim ASICS Aufsteller lungern entspannt mit Pizza in ihren Stühlen und ein paar vereinzelte Läufer stehen bei der Startnummernausgabe. Insgesamt herrscht eine völlig unaufgeregte Stimmung, die sich wie eine Decke über meine Nervosität und Anspannung der Fahrt legt. Ein Grund, warum ich diese kleinen Veranstaltungen schätze. Persönliche Atmosphäre und keine überlaufenen Start- und Zielbereiche. Wir sagen den netten Damen bei der Nummernausgabe unsere Namen und erhalten kurz darauf sämtliche Unterlagen sowie einen gut gefüllten Goodiebag inklusive Socken, T-Shirt, Faszienball, Muskelentspannungsgels und Riegeln. 49. Ob die Nummer morgen meine Glückszahl wird?
Kurz darauf beziehen wir unseren Platz auf dem Campingplatz, auf dem wir die nächsten zwei Nächte schlafen werden und erleben die nächste Überraschung. Da die Schranke morgen früh um 6 Uhr noch nicht offen sein wird, werden wir nicht mit dem Auto zum Start fahren können. Dagegen habe ich grundsätzlich nichts, aber eine Busverbindung gibt es auch nicht.
„Es sind doch nur 2,5 Kilometer. Das macht bei einem 54 Kilometer Rennen doch keinen Unterschied.“, lacht Malte.
Und wie es das tut, denke ich angesäuert. Das bedeutet eine halbe Stunde weniger Schlaf. Seufzend finde ich mich damit ab, mein Frühstück im Gehen essen zu werden. Nach der klassischen Pasta zum Abendessen sowie der ersten Halbzeit des ersten Deutschland-EM-Spiels, falle ich im Dachzelt in einen unruhigen Schlaf.
Geweckt werde ich von Kindergeschrei aus einem der angrenzenden Zelte. Ich kneife die Augen zu in der schlafduseligen Wirklichkeit eines Menschen, der nach einer kleinen unangenehmen Störung erneut in die Tiefen des Schlafs der Gerechten versinken will. Als ziemlich genau eine Minute später mein Wecker klingelt, finde ich das alles andere als gerecht. Konsterniert schaue ich an die Decke des Dachzelts, an der sich einzelne Kondenswassertropfen gebildet haben. Es ist zehn nach fünf. In zwanzig Minuten müssen wir los. Es ist einer dieser Momente, in denen das Schicksal des Tages kurz auf Messers Schneide steht. Ein Moment, in dem ein gemütlicher Tag im Dachzelt mit spätem Frühstück und ruhigen, regenprasselnden Lesestunden vor meinem inneren Auge abläuft und ich mich frage, was genau ich an 50 Kilometern und 3.500 Höhenmetern eigentlich so attraktiv finde? Überlegungen wie diese sind natürlich rein hypothetisch, da ich tief in meinem Herzen weiß, wie sehr ich den Sport und die Berge liebe.
Als ich etwas steif die Leiter herunterklettere, ist von dem angesagten Regen allerdings noch nichts zu sehen. Der Tschirgant erhebt sich vor einem Himmel, an dem keine Wolke das Kornblumenblau verdeckt, das den baldigen Sonnenaufgang ankündigt. Leider ist mir etwas übel, weshalb ich zum Frühstück nur ein Laugenbrötchen mit Banane schaffe, das ich gestern bereits vorbereitet hatte. Etwas dürftige Grundlage, aber besser, als es auf gleichem Wege wieder loszuwerden. Dieses Schicksal ereilte einen anderen armen Teilnehmer, wie mir sehr eindeutige Überreste auf dem Bürgersteig mitteilen. Der Mais gestern Abend war anscheinend nicht mehr gut.
Am Sportzentrum in Imst ist die Stimmung noch verhalten. Letzte Toilettengänge, vorsichtiges Aufwärmen, Rucksackkontrolle für die Pflichtausrüstung. Es folgt ein kurzes Streckenbriefing. Trotz des vorhergesagten schlechten Wetters später wird die normale Route auf den Tschirgant hinaufgelaufen anstatt der Sicherheitsroute. Nach technischen Schwierigkeiten, die AC/DCs „Highway to Hell“ abwürgen, fällt auch schon der Startschuss und etwa hundert Ultraläufer und -läuferinnen begeben sich auf die gut 55 Kilometer lange Strecke mit 3.500 Höhenmetern.
Tschirgant Sky Run 2024
In einer Wolke aus bunten Rucksäcken, Stöcken und Schuhen verlassen wir das Sportgelände und folgen einer asphaltierten Straße in Richtung Sonnenaufgang. Dank der klugen Streckenführung verlaufen die ersten drei Kilometer über breitere Wege, sodass sich das Feld schnell entzerrt. Wir sind zwei Kilometer weit gekommen, da meint Malte:
„Ich freue mich schon auf die Pizza später.“
Ich muss lachen. Zehn Minuten im Rennen und mein Freund denkt schon an Pizza. Andererseits kann man nicht früh genug anfangen, positive Dinge als Motivation zu manifestieren.
Plötzlich stürzt ein Läufer vor uns aus dem Nichts und schrammt sich übel den Ellenbogen auf. Zum Glück scheint er sich nichts getan zu haben, denn er steht sofort wieder auf und läuft weiter. Sein Laufstil sieht allerdings aus, als wäre er prädestiniert zum Stolpern. Andererseits sind Ultraläufer auch nicht für ihre dynamischen, leichtfüßigen Laufstile bekannt.
Die Route zieht sich nach Süden um die Westflanke des Tschirgants herum und führt durch den Ort Karrösten hindurch. Kurz darauf wartet nach circa fünf Kilometern bereits die erste Verpflegungsstation mit Kuchen, Obst, Iso und Wasser. Dann wird es langsam steil und der gut 1500 Höhenmeter lange Aufstieg auf den Tschirgant beginnt. Zunächst geht es durch Wald und über wurzelige Pfade sanft bergauf. Mein Blick ist weitestgehend auf den Boden gerichtet und ich überlege die meiste Zeit, ob mir eigentlich gerade übel ist oder nicht. So merke ich nicht, dass der vorhin noch makellose Himmel sich zunehmend bewölkt.
Ich kenne mich mittlerweile gut und weiß, dass meine mentale Verfassung zu Beginn eines Rennens oft schlechter ist als im späteren Verlauf. Andere mögen genau gegensätzlich empfinden aber mir schlägt das Wissen, welcher Berg (im wahrsten Sinne des Wortes) an Kilometern noch auf mich wartet, gerne mal auf die Psyche und dementsprechend auf den Magen. Da hilft nur Augen zu und durch. Nach den ersten ein bis zwei Stunden sieht die Welt und die Zahl auf der Uhr schon ganz anders aus. So auch hier: Ehe wir uns versehen, erreichen wir die Karröster Alm und zweite Verpflegungsstation nach neun Kilometern.
„Bist du die erste Frau?“, lacht mich eine andere Läuferin an. Ich glaube, ich muss in dem Moment etwas perplex ausgesehen haben und es dauert etwas, bis ich schalte. Vermutlich wurde ich hier mit der ersten Läuferin der Marathondistanz verwechselt.
„Leider nicht, aber schön wär´s.“, gebe ich grinsend zurück und beiße genüsslich in ein Stück Schokoladenkuchen, nachdem ich mit meinem Magen ausdiskutiert habe, dass uns nicht mehr übel ist.
Allerdings macht sich ein anderes Problem bemerkbar. Meine linke Ferse.
„Ich glaube ich kriege eine Blase.“, stelle ich fest.
„Ehrlich gesagt, habe ich da jetzt wenig Mitleid.“, kommt es von Malte lapidar zurück.
Man muss dazusagen, dass ich mit Schuhen laufe, die ich mir vor einer Woche bestellt habe, weil meine alten dem technischen Anspruch des Rennens nicht mehr gerecht geworden wären. Nun könnte man anmerken, dass ich die neuen Schuhe ja früher hätte bestellen können, um sie besser einzulaufen. Andererseits hatte ich mit dieser Marke noch nie Probleme mit Blasen und habe darauf vertraut, dass es bei einem neuen Modell ebenfalls kein Problem sein wird. Ein Anfängerfehler, der mir nach zehn Jahren Laufgeschichte, ja, warum nochmal passiert? Schlechtem Zeitmanagement? Falschem Vertrauen?
Resigniert klebe ich ein präventives Blasenpflaster auf besagt Stelle, welches dort dank Feuchtigkeit ungefähr genau drei Minuten und 24 Sekunden hält, bevor es in den Untiefen meines Sockens verschwindet. Dann eben nicht.
Während ich über meine vermeidbaren und unvermeidbaren Fehler nachdenke, ziehen sich die Bäume zunehmend zurück und geben den Blick auf schrofferes Gelände vor einem noch schrofferen Himmel frei. Von dem Tiefblau von heute morgen ist nicht mehr viel zu sehen. Hin und wieder kleben Schneereste wie weiße Pflaster auf dem steinigen Pfad und grüne Latschen streichen wie kratzbürstige Katzenschwänze um die Beine.
Malte und ich erreichen eine besonders steile Passage, die mit einem Drahtseil gesichert ist. An ihrem oberen Ende warten zwei Bergretter der Bergrettung Imst in leuchtend roten Jacken. Obwohl mein Puls bei 170 ist, lächle ich ihnen zu. Sie haben schließlich auch einen harten Job bei dem Wind und jetzt einsetzenden Nieselregen. Das Gelände macht keine Anstalten flacher zu werden, was immerhin darauf hindeutet, dass der Gipfel nicht mehr weit sein kann. Wir werden von ein paar anderen überholt, die bei dieser Steigung tatsächlich noch laufen. Mir ist es völlig schleierhaft, wie man bei dieser Steigung eine Flugphase in seinen Schritt einbauen kann, aber diese Maschinen sehen aus, als wüssten sie, was sie tun.
Endlich, nach knapp zweieinhalb Stunden erreichen wir den Gipfel des namensgebenden Tschirgant. Es ist sehr windig und frisch und so feiern wir nicht lange und begeben uns auf den nach Osten hin verlaufenden Grat. Dies ist der technisch anspruchsvollste Teil der Strecke. Mit den tiefhängenden Wolken, aus denen zu beiden Seiten geheimnisvoll die umliegenden Bergketten und der sich im Tal schlängelnde Inn hervorblitzen, herrscht eine epische Stimmung. Kurzzeitig ist alle Anstrengung vergessen, während die Welt links und rechts zu meinen Füßen hin abfällt. Ich habe das Gefühl, zu fliegen, das so einzigartig ist für das Laufen auf einem Grat. Wir passieren eine Stelle, an der der Pfad von einer gut einen Meter hohen Schneeschicht begraben ist. Die Jungs vom Veranstaltungsteam haben hier ganze Arbeit geleistet und einen Tunnel hindurchgegraben. Trotzdem ist ein wenig Balance gefragt, um heil auf die andere Seite zu gelangen.
Der Grat neigt sich talwärts und wir überqueren den niedrigeren Zwölferkopf. Der Weg zeigt sich von seiner laufbareren Seite und das Gelände wird wieder grüner. Parallel merke ich, wie ich langsam entspannter werde und anfange, das Ganze zu genießen. Ein Stück den Pfad hinunter steht ein anderer Trailläufer und brüllt:
„Weiter so! Ihr habt jetzt einen langen Downhill vor euch!“
Besagter Downhill lässt sich wunderbar hinunterrollen über grasige Trails und durch blumenbewachsene Zauberwälder. Schnell ist der nächste Verpflegungspunkt an der Haiminger Alm (18km) erreicht. Dort ist die Stimmung jedenfalls nicht durch das graue Wetter getrübt. Während ich ein Stück Kuchen nach dem anderen esse und mir gleichzeitig Salzbrezeln in die Weste stopfe, merke ich, wie mir die gute Laune der Volunteers einen richtigen, mentalen Push gibt.
„Wer rastet, der rostet!“, rufe ich Malte zu und laufe mit neuer Energie dem letzten Anstieg auf der Südseite der Strecke entgegen.
Wir erreichen den Gipfel des Simmering und die Gegend scheint wie ausgestorben. Wüsste ich es nicht besser, würde ich glauben, wir wären heute allein hier hochgelaufen. Allerdings genieße ich die Ruhe auch. Umso mehr freue ich mich über kleine Stimmungsnester wie den einzelnen Läufer vorhin. Im Gegensatz zum schroffen Tschirgant, erinnert die Landschaft nun eher an die Serie Heidi, mit sanften Weideflächen und ebenso sanftäugigen Kühen.
Was folgt, ist allerdings alles andere als sanft. Der Simmeringsteig entpuppt sich mit 1000 Höhenmetern auf drei Kilometern im Downhill als ein echter Knochenbrecher.
„Meine Oberschenkel brennen schlimmer als nach drei Sätzen Kniebeugen mit hundert Kilo.“, jammert Malte.
Ich kann ihm nur zustimmen und bete, dass dieses wurzelige Ungeheuer uns endlich im Tal wieder ausspuckt. Es wundert mich jedenfalls nicht, kurz vor Ende des Steigs eine Truppe Sanitäter sitzen zu sehen. Vermutlich um die Reste verunglückter Läufer von den Bäumen zu kratzen. Krämpfe, Verstauchungen und Schürfwunden sind hier vorprogrammiert.
Ich mache im Kopf drei Kreuze, als wir aus dem Wald hinaus auf eine Straße laufen, die uns zwei Kilometer Verschnaufpause hinunter durch Nassereith gewährt.
Unsere Mägen machen sich nach der Tortur ebenfalls bemerkbar und wir sind froh, als die nächste Verpflegungsstation (29km) in Sicht kommt. Während der erste richtige Schauer über uns niedergeht, unterhalten wir uns mit den hilfsbereiten Mädels, die hier seit Stunden im Regen Kuchen schneiden und Flaschen auffüllen. Sie lachen herzhaft, als ich zur Abwechslung ein paar Liegestütze mache und meinen:
„Ihr seht ja noch richtig gut aus!“
„Fake it, til you make it.“, kann ich nur entgegen, muss aber ebenfalls lachen.
Schweren Herzens trennen wir uns von der kleinen Oase der Herzlichkeit und Kalorien und schlagen uns wieder in die Büsche.
Ziemlich schnell wird es wieder ziemlich steil. Um uns abzulenken, spielen wir „Was würden wir jetzt gerne essen von A-Z“.
„Apfelkuchen.“
„Bratkartoffeln.“
„Chinakohl.“
„Was? Du willst jetzt Chinakohl essen?!“
„Um Gottes Willen, nein, aber mir fällt nichts mit C ein.“
So kommen wir bis V (Verschleiertes Bauernmädchen), bis uns die Luft ausgeht und wir wieder in das ultralaufende Schweigen verfallen.
Wir verlassen den Waldpfad für eine Forsstraße, die uns um den Oberen Sießekopf herumführt. Malte, der gerade in einem kleinen Tief steckt, bleibt alle paar Minuten stehen. Nun ist es an mir, ein bisschen gemein zu sein.
„Du hättest ja gestern nicht noch die zweite Halbzeit gucken müssen! Dann wärst du auch nicht so müde.“, versetze ich und denke an seinen Kommentar zu meiner Blase heute morgen. Natürlich tut er mir trotzdem leid. Wie es bei Ultras häufig ist, sind die Stimmungslagen von zwei Laufpartnern oft konträr. So auch jetzt. In Anbetracht der schon mehr als die Hälfte geschafften Kilometer, geht es mir plötzlich wieder prächtig. Auf den nächsten fünf Kilometern überhole ich sogar noch zwei Frauen.
Eine steile Pfadspur schlängelt sich durch dichtes Gebüsch bis Kilometer 37, bevor sich der Weg langsam verbreitert und uns zur vorletzten Verpflegungsstation bei der Kapelle Sinnesbrunn führt (Km 39). Dort halten Malte und ich eine kleine Krisensitzung ab. Auf den letzten Kilometern hat sich leider sein Läuferknie wieder gemeldet, was ihn in den letzten Monaten immer mal wieder beschäftigt hat. Schweren Herzens entscheiden wir, uns zu trennen („Aber nicht wir.“ So viel Humor hat er immerhin noch.) Für Malte wäre es unvernünftig, weiter mit dem Knie zu joggen. Immerhin sind es noch fünfzehn Kilometer bis ins Ziel. Mit ein bisschen Pipi in den Augen verabschiede ich mich und laufe alleine weiter.
Trotz allem hält mein Energieschub von vorhin weiter an. Die nächsten zehn Kilometer fliegen innerhalb einer Stunde an mir vorbei. Ich laufe oberhalb an Obtarrenz vorbei über flowige Trails des Starkenburger Panoramawegs und über eine beeindruckende Brücke, die sich über den Salvesenbach spannt.
Ich überhole einige Männer, von denen mir einer hinterherruft, wie weit es denn noch sei.
„Round about seven!“, rufe ich über meine Schulter und lasse sie in einer Wolke aus nassen Blättern und Regentropfen hinter mir.
An der letzten Verpflegungsstation am Starkenburger See (Km 47) hält ein eingespieltes Vater-Sohn-Gespann die Stellung. Ich schätze den Jungen auf um die vierzehn. Er ist sehr freundlich und zuvorkommend, hilft mir mit meiner Flasche und dem Elektrolyte-Päckchen. Es erfüllt mich mit Freude zu sehen, dass es noch Jugendliche gibt, die sich freiwillig am Wochenende in den Regen stellen und dabei so freundlich und offen sind. Mit einem herzlichen Dank verabschiede ich mich und trete den letzten Abschnitt an.
Dieser ist für mich immer ganz besonders. Zwischen der letzten Verpflegungsstelle und der Ziellinie liegt die letzte Chance, mit dem Lauf und sich ins Reine zu kommen. Zu überlegen, wo man heute überall gelaufen ist. Wo man sich stark gefühlt hat und an welchem Punkt man vielleicht kurz davor war, aufzugeben. Zu reflektieren, warum man dies nicht getan hat. Die letzten Kilometer sind eine Zeit, um sich zu freuen, sich zu feiern und stolz auf sich zu sein. Ich versuche immer, die letzten Kilometer eines Rennens oder Laufs besonders zu genießen, unabhängig davon, wie müde die Beine und der Kopf sein mögen. Schließlich ist jeder Kilometer selbst gewählt und ein Luxus von zwei gesunden Beinen, um denen viele Menschen einen beneiden würden.
In diese Gedanken versunken überquere ich die Landstraße L246 und biege auf einen Trail, auf dem ich mich glatt verlaufe. Die ansonsten top ausgeschilderte Strecke hat hier anscheinend einen kleinen Schönheitsfehler. Nach einem kurzen Check auf der Handykarte und einem Stück querfeldein, bin ich aber wieder auf der richtigen Route. Nass und dreckig erreiche ich Imst, aber von Zielstimmung ist noch keine Rede. Drei Volunteers sitzen an der Kreuzung und passen auf, dass die Läufer brav ihren letzten Anstieg nach Hoch-Imst in Angriff nehmen. Dabei sind sie aber sehr freundlich und feuern mich aus voller Kehle an.
Ich habe das Stadium der Anstrengung hinter mir gelassen und die langsam einsetzende Euphorie treibt mich die letzten Höhenmeter hinauf. Ich hike an zwei anderen Läufern vorbei und werde erneut gefragt, ob das der richtige Weg sei. Ja, sage ich, wir Ultraläufer nehmen jede Schleife mit.
Endlich erreiche ich Hoch-Imst mit seiner Bergstation und Sommerrodelbahn und begebe mich in den letzten Downhill durch die berüchtigte Rosengartenschlucht. Es folgt noch einmal technischer Anspruch in Form von rutschigen Treppen, nassen Felsen und dunkeln Felstunneln. Auf den kurzen ebenen Passagen schaue ich auf und bestaune die tosenden Wasserfälle, die hier über verschiedene Stufen Imst entgegenrauschen. Ich komme an einem älteren Läufer vorbei, der hier auf den nassen Treppen besonders vorsichtig ist. Ich kann es ihm nicht verdenken und bin ebenfalls froh wieder festen Boden ergo Asphalt unter den Füßen zu haben.
Jetzt heißt es nur noch rennen. Ich rausche an der Johanneskirche vorbei und sprinte die letzten zwei Kilometer durch Imst. Dabei überhole ich sogar noch ein Pärchen. Pass. Gap. Bury. Ich denke an die Lektion zum Thema Überholen der amerikanischen Ultraläuferin Sally McRae. Bloß nicht langsamer werden und genug Abstand zwischen uns bringen. Obwohl ich den Großteil des Rennens gar keine kompetitiven Ambitionen gehegt habt, packt mich auf den letzten Kilometern doch noch ein bisschen der Wettkampfgeist. Allerdings habe ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Zuerst gibt es einen kleinen Gegenanstieg (Ich wusste heute morgen schon, dass die hundert Meter der größte Nervtöter sein würden) und dann biege ich falsch ab und finde das Ziel nicht. Panisch frage ich einen Läufer, der zufällig auf dem Parkplatz steht. Umständlich zeigt er mir den Weg, da mache ich schon auf dem Absatz kehrt und rase zurück auf die richtige Strecke. Tatsächlich führen einen die Markierungen noch einmal in einem Bogen um den Zielbereich herum, sodass man von unten den Berg hinauf ans Ziel heranlaufen muss. Was für ein nettes Abschiedsgeschenk.
Umso mehr freue ich mich, als der Moderator schon von weitem meinen Namen ankündigt und mich eine ganze Gruppe an unbekannten Menschen die letzten Meter ins Ziel hineinbrüllt. Und dann bin ich durch den Zielbogen hindurch und halte, natürlich, erstmal meine Uhr an. 9 Stunden 46 Minuten. Was für ein tolles Rennen.
Im Ziel
Obwohl es regnet, herrscht eine Top-Stimmung. Jeder, der ankommt, wird persönlich mit Handschlag begrüßt. Während ich noch versuche, mich zu sortieren, kommt der ältere Läufer, den ich vorhin in der Schlucht überholt hatte, keine fünfzehn Minuten später ins Ziel. Mir fällt fast die Kinnlade hinunter als ich erfahre, dass er 75 Jahre alt ist. Mit 75 noch solche Läufe?! Und dann auch noch so schnell! Was für ein Vorbild.
Bevor mir kalt wird stakse ich zu den Umkleiden und Duschen. Es gibt nur eine Sammeldusche für alle. Das mag jeder finden, wie er will (es wird ja niemand gezwungen, hier zu duschen), ich finde es jedenfalls sehr entspannt. Wir sind hier einfach alle nur müde, dreckige, emotionale Läuferinnen und Läufer. Unter der Dusche fällt mir ein, dass ich Genie gar kein Handtuch dabeihabe. Notgedrungen behelfe ich mich mit dem einigermaßen trockenen Buff und meiner Wechselunterhose. Auch egal jetzt.
Kurz darauf trudelt Malte ein, der bis auf den letzten Schlenker alles gewandert ist. Ich kann verstehen, dass er deprimiert ist. Ein DNF ist immer frustrierend. Aber noch frustrierender wäre eine schlimmere Verletzung. Und er hat immerhin auch fünfzig Kilometer auf der Uhr stehen. Das ist schließlich auch keine Kleinigkeit.
Ich bin glücklich über den erfolgreichen, super organisierten Lauf und den Tag in den Bergen, die ich so liebe. An dieser Stelle auch einen großen Dank an das Veranstaltungsteam, das die Tage davor (Ich sag nur Schneeschippen auf über 2000 Metern Höhe) und währenddessen für eine hervorragende Organisation gesorgt hat. Ich komme bestimmt wieder!
Verpflegung, Snacks & Co.:
Davor: Laugenbrötchen mit Banane, Frischkäse, Honig und Erdnussbutter
Verpflegung: 6 Gels (zwischen 100kcal, 20g KH), 2x Hydraid Sticks, sehr viel Kuchen, Salzbrezeln
Danach: Proteinriegel und Pizza (interessante Version mit dem österreichischen Topfen als Grundlage)!
Leave A Reply