Herausfordernd. Heldenhaft. Himmelhoch hinaus.
Inhaltsverzeichnis
Touren-Quickie
167 Km
10.500 Hm
4d/ 40h running time
Start-/ Endpunkt: Täsch
Etappen:
- Täsch – Champoluc
- Champoluc – Alagna Valsesia
- Alagna Valsesia – Saas-Grund
- Saas-Grund – Täsch


Kick-Off
Die offizielle Tour Monte Rosa ist ein Langstreckenwanderweg, der auf etwa 170 Kilometern und 11.000 Höhenmetern um das Monte-Rosa-Massiv verläuft. Dabei werden neben dem Monte-Rosa-Massiv auch die Mischabel-Gruppe und der Nadelgrat und somit ganze 29 Viertausender-Gipfel umrundet. Die Zahlen sprechen für sich; spätestens jedoch, wer das majestätische Weißhorn, den weißgleißenden Wächter Zermatts, oder das fast schon kitschig schöne Matterhorn vor sich aufragen sieht, kann der kontrastreichen, wilden Schönheit der Tour Monte Rosa nicht mehr widerstehen. Ach, und dann wäre da noch das Wörtchen „Ultra“. Die normale Runde wird in neun oder mehr Tagen absolviert. Verrückte, ambitionierte oder schlichtweg abenteuerlustige Bergsportler und Ultraläufer laufen die Tour in einem Rutsch oder in vier Tagen. Die offizielle Veranstaltung dazu findet Anfang September statt, wenn die Bedingungen am besten und alle Pässe schneefrei sind.
Und dann gibt es da noch uns. Michelle, leistungsstarke Trailläuferin, die bereits einige beeindruckende Siege vorzuweisen hat (z.B. 2. Platz beim Großglockner Trail). Und mich, immer für lange Bergabenteuer zu haben. Auf das offizielle Rennen zu warten, kommt für uns aus finanziellen (Studentenleben lässt grüßen) und zeitlichen Gründen nicht in Frage. Deshalb planen wir unsere Ultra Tour Monte Rosa – Self Supported – für Mitte Juni. Etwas eingeschränkt, da viele Hütten noch zu haben, aber nicht unmöglich, weil wir flexibel mit unseren Start- und Endpunkten sind und unsere Übernachtungen auf Dörfer in den Tälern legen. Schließlich steht unsere eigene Planung mit folgenden Daten (Vorsicht! Die geplanten Daten entsprechen selten den in Realität gelaufenen Distanzen; wir hatten eigentlich immer ein paar Kilometer oder Höhenmeter mehr):
| Datum | Etappe | Start | Ziel | Distanz (km) | Verts (+) | Verts (-) | Unterkunft | Preis p. Person |
| Donnerstag 12.06 | Etappe 1 | Täsch | Champoluc | 42 | 2.850 | 2700 | Hotel Täscherhof | 62€ (inkl. Frühstück) |
| Freitag 13.06. | Etappe 2 | Champoluc | Alagna Valsesia | 33 | 2250 | 2900 | Hotel De Champoluc | 50€ (inkl. Frühstück) |
| Samstag 14.06. | Etappe 3 | Alagna Valesia | Saas-Grund | 50 | 3250 | 2850 | Campingplatz Alagna | ca. 20€ (+Van) |
| Sonntag 15.06. | Etappe 4 | Saas-Fee/ Saas-Grund | Täsch | 43 | 2800 | 2900 | Haus Chalet Arnika | 55,50€ |

1. Etappe: Täsch – Champoluc
Nach einem eher kargen Abendessen (leider kein Schweizer Döner für 15 Franken), bestehend aus zwei Brötchen und einem Apfel, kommt mir das Frühstücksbuffet wie der Ultraläuferhimmel auf Erden vor: Brötchen, Croissants, Marmelade, ein riesiger Nutellaspender, Rührei, echtes Schweizer Birchermüsli. Es ist eine Gratwanderung für meinen Magen: so viel essen wie möglich, aber nicht so viel, dass mir auf den ersten 900 Höhenmetern davon schlecht wird. Außer Michelle und mir befindet sich eine, vom Altersdurchschnitt her um die 60 anmutende, Reisegruppe im Frühstücksraum, die sich laut Aushang auf einen 12-minütigen „Adventure Walk“ durch Zermatt begeben will. Dorthin fahren sie natürlich mit dem Glacier Express – für Autos und Busse ist in Täsch Endstation. Ich kann mir das Grinsen nicht verkneifen, werde aber schnell wieder ernst, wenn ich an die Tour denke, die wir uns vorgenommen haben. Wäre ein 12-minütiger Spaziergang nicht auch nett gewesen?
Es bleibt keine Zeit für Zweifel, denn wir wollen früh los – für unseren 170-Kilometer-Spaziergang, namentlich Ultra Tour Monte Rosa. Die heutige Etappe ist eine der längsten und anspruchsvollsten, mit der Überquerung des Theodulpasses auf knapp 3.300 m. Nach einem schnellen Startfoto laufen wir die ersten Meter. Nicht nachdenken, nicht nachdenken – einfach nicht darüber nachdenken, was da vor mir liegt, bete ich innerlich mein Mantra vor mich hin.
Trotzdem ist mein System noch nicht auf Touren, macht einen kleinen Rückzieher – wie ich es häufig von mir kenne, kurz nach dem Start großer Projekte. Es ist, als würde sich meine eigene Unsicherheit mit der evolutionsbiologisch sinnvollsten Alternative (zurück zum Frühstücksbuffet und dann ins Bett) verbünden und sich in meinem Magen zu einer kleinen, harten Kugel zusammenballen. Oder ich habe doch zu viel gegessen. Jedenfalls ist mir übel.
Deshalb bin ich ganz glücklich, dass Michelle mich mit Geschichten von ihren Reisen unterhält, während wir die knapp 900 Höhenmeter hinauf auf den Europaweg bewältigen. Dieser verläuft auf etwa 2.300 Metern Höhe parallel zum Tal in Richtung Zermatt.


Dort angelangt, sind alle Übelkeit und anfängliche Unsicherheit vergessen.
Unwirklich, einzigartig, fast schon lächerlich beeindruckend, taucht plötzlich das Matterhorn am Himmel auf. Bei dem Anblick lässt sich nicht bestreiten, dass dieser Berg eine der beliebtesten Touristenattraktionen der Schweiz ist – und auch unter Alpinisten ein großes Ziel darstellt. Gleich vier Grate und eine schwierige Route durch die Nordwand führen auf den Gipfel. Irgendwann möchte ich auch hinauf. Die aktuelle Route verläuft zwar daran vorbei, doch der Blick auf die freistehenden Felswände und den leicht geneigten Gipfel ist nicht minder beeindruckend.
Kurz darauf durchqueren wir Zermatt, durch dessen hübsche Gassen eine interressante Mischung aus Bergsteigern mit Seil und Eispickel sowie Touristen in Polohemd und Sandalen schlendert. Ich frage mich, wer in einem Schweizer Bergdorf, das nicht einmal mit Autos erreicht werden kann, auf die Idee kommt, eine Designeruhr zu kaufen. Ganze drei Uhrengeschäfte zähle ich. Allerdings kenne ich auch keine Menschen aus der entsprechenden, uhrenfreundlichen Gehalts- und Gemütsklasse – eine Welt, die so weit von meinem Vorstellungsvermögen entfernt liegt, wie es bei einer Studentin und verrückten Trailläuferin nur der Fall sein kann.
Schnell lassen wir Zermatt hinter uns, als wir uns an den langen Aufstieg zum Theodulpass begeben: knapp 1.700 Höhenmeter am Stück, auf eine Höhe von knapp 3.300 Metern – und damit zum höchsten Punkt der gesamten Runde. Die Gandegghütte erreichen wir später als gedacht. Der Pfad wird alpiner und führt uns bereits durch das ein oder andere Schneefeld. Teils brechen wir bis zur Hüfte ein – immerhin kühlt es die Oberschenkel, die von der Hitze und Anstrengung glühen.


Einen erkennbaren Weg gibt es ab hier nicht mehr. Wir verlassen uns auf die Tracks unserer Uhr, die uns in südwestlicher Richtung zum Furgggletscher führen. In einer steilen, felsigen Flanke entscheiden wir uns, direkt ins Gletscherbecken abzusteigen, da der Gletscher Teil des Skigebiets ist und eine Piste sowie ein Ziehweg gut ersichtlich hinauf zum Pass führen. Die nächsten zwei Kilometer kommen mir vor wie die letzten zwanzig. Auf der weißgleißenden Piste verschwimmt mein Gefühl für Entfernung. Einzig das Breithorn zur Linken und das Theodulhorn zur Rechten bieten einen visuellen Anker am Horizont Meine unakklimatisierte Lunge merkt die dünnere Luft.
Der Hund eines Skitourengehers bellt mich an, wedelt dabei aber mit dem Schwanz. Ich lächle ihn an. Irgendwie absurd, im Sommer immer noch auf Skifahrer zu treffen – aber in den hohen Bergen ist Skifahren auch jetzt noch möglich. Meter für Meter arbeite ich mich die Piste hinauf. In der weichen Schneeschicht rutscht mein Schuh bei jedem Schritt ein Stück zurück. Die Sonne knallt. Hinterher weiß ich nicht mehr, worüber ich nachgedacht habe. Ich bin jedenfalls sehr erleichtert, als wir endlich den Pass erreichen und hinab auf die italienische Seite blicken können.
Nach ein bisschen Wegsucherei finden wir die richtige Piste, auf der unser langer Abstieg beginnt. Wie eine Mondlandschaft breitet sich das verlassene Skigebiet vor uns aus.
Wieder und wieder verlieren wir den richtigen Weg in weitläufigen Schneefeldern.
Einmal brechen wir durch die Schneedecke direkt ins eisige Schmelzwasser ein, das sich in jeder Kuhle, Mulde oder Senke sammelt. Der Schmerz ist beißend – und kommt direkt aus der Hölle. Einer sehr kalten Hölle. Jaulend renne ich durch das Schneefeld auf den nächsten rettenden Felsen.


Nach einem fiesen Gegenanstieg, vorbei am Laghi delle Cime Bianche und etlichen sulzigen Schneefeldern, erreichen wir endlich wieder grünere Gefilde. Es ist bereits nach sechs Uhr. Für den Gletscher und den Pass haben wir fast drei Stunden länger gebraucht als gedacht. Dafür entschädigt das sanfte Abendlicht, das beim Blick zurück selbst die scharfen Konturen des Matterhorns in ein warmes Glühen taucht.
Als wir um acht Uhr nach fast zwölf Stunden unser Hotel in Champoluc erreichen, wartet die nächste böse Überraschung auf uns: In dem kleinen italienischen Städtchen ist – auch mit Hilfe unseres herzlichen Gastgebers – keine Pizza aufzutreiben. Dabei hatten wir uns den ganzen Tag auf echte italienische Pizza gefreut. Anscheinend befinden wir uns noch nicht in der Hauptsaison, und viele Restaurants haben noch geschlossen. Diese Tatsache sorgt kurzfristig für ein Stimmungstief, wie es nur Läuferinnen haben können, die nach einem Tag voll nasser Füße, Hitze und Schneefeldern um ihre Pizza gebracht werden. Schließlich essen wir mangels Alternativen im hoteleigenen Restaurant. Der Teller Ravioli erinnert zwar eher an eine Kinderportion, schmeckt aber immerhin vorzüglich. Und es gibt ja noch Brot dazu.



Highlights
- Europaweg mit Matterhornblick
- Höchster Punkt auf dem Theodul-Pass (3.300m)
Lowlights
- Viel sulziger Schnee, fehlende Wege
- Keine offene Pizzeria in Champoluc
2. Etappe: Champoluc – Alagna Valsesia
Wie gestern beginnt der heutige Tag bei einem ausgiebigen Frühstücksbuffet, bei dem ich meine Speicher nach dem etwas kargen Abendessen wieder auffüllen kann. Es gibt Cappuccino aus der Siebträgermaschine und frische Croissants. Außerdem probieren Michelle und ich uns durch eine ganze Auswahl an italienischem Gebäck und Kuchen. Kalorientechnisch gut gerüstet starten wir in den wolkenlosen Morgen. Ab heute besteht ab nachmittags die Gefahr von Wärmegewittern. Einer Tatsache, die wir durch frühes Starten und das im Blick behalten verschiedenere Wetterapps sowie des Himmels entgegenwirken wollen. Trotzdem bin ich nicht so entspannt wie gestern, wo den ganzen Tag sicheres Wetter angesagt war.
Der Aufstieg auf den ersten Pass verläuft dank Schneefreiheit problemlos und flott. Allerdings ist er schweißtreibend steil, da er exakt unter einem Lift auf einer Piste verläuft. Michelle findet fünf Euro und zahlreiche Skipässe, ich eine blaue Skibrille. Interessant, was der Schnee alles für Relikte aus dem Winter freigegeben hat. Wir überqueren den Colle della Bettaforca (2.672m) und rollen über einen Forstweg hinunter ins kleine Skidorf Staffal. Von dort geht es direkt wieder hinauf zum Passo dei Salati (2.980m). Bei einer Alm treffen wir zwei meckernde, gehörnte Freunde, deren kratzige Zungen gefallen an unseren salzigen Fingern finden. Danach wird die Wegqualität bedeutend mühsamer. Der Ziehweg, der hin und wieder die Piste kreuzt, ist eine Mischung aus Schlamm, weichem Schnee und Eis. Eine Pistenraupe schiebt die größten Schneeverwehungen zur Seite. Mir ist etwas mulmig dabei, das Ungetüm zu überholen, aber der Mann im Fahrerhäuschen grüßt freundlich. Das habe ich auch noch nicht erlebt: von einer Pistenraupe den Berg hinauf gejagt zu werden. Während die Wolkendecke zuzieht, erkenne ich oben auf dem Pass einen Steinbock, der wie ein Postenkartenmotiv auf einem Felsvorsprung thront. Als ich nach zehn Minuten aufblicke und er noch immer in genau derselben Position dort steht, fange ich an, an meinen visuellen Fähigkeiten zu zweifeln. Etwas verlangsamt begreift mein Verstand, dass es sich um eine Attrappe handelt.


Auf der Passhöhe angelangt gefällt mir gar nicht, was ich auf der anderen Seite erblicke. In der gegenüberliegenden Bergkette hängen schwere, dunkle Wolken und in regelmäßigen Abständen dringt ein dunkles Grollen zu uns hinüber. Es ist gerade mal 14 Uhr. Wir haben mit mindestens einer Stunde länger sicheren Wetters gerechnet. Aber in den Bergen gibt es keine Garantien. Zu allem Überfluss ist unser Weg erneut komplett verschneit und unsichtbar. Um möglichst schnell an Höhe zu verlieren, entscheiden wir, die blaue Piste hinunterzurennen, die, wie wir glauben ein gutes Stück weiter unten auf den richtigen Track zurückführen wird. Ein großer Fehler, wie wir zu unserem Entsetzen feststellen müssen. Die Piste endet auf einem kleinen Plateau mit Liftstation, von der aus die Skifahrer problemlos zurück hinaufkommen. Für uns allerdings ein Dead End. Die Klippe hinter der Station fällt senkrecht ab. Hier kommen wir nicht weiter. Nicht ohne Seil und Kletterausrüstung. Verzweiflung wallt in mir auf, als ich ins Tal hinabblicke und ein gutes Stück unter uns, aber Luftlinie gar nicht allzu weit entfernt, den Weg entdecke. Ein braunes Band im trüben Grün. So unerreichbar. Derzeit ist das Gewitter von der anderen Talseite in unsere Richtung gezogen. Immer häufiger donnert es und vereinzelt zucken Blitze durch die Wolken. Alles in mir sträubt sich dagegen, wieder in diese unübersichtliche, weiße Wetterhölle über uns aufzusteigen. Aber eine andere Möglichkeit haben wir nicht.
Ich dränge die aufkeimende Panik zurück und fokussiere alle meine Energie auf den Aufstieg. Statt der Piste folgen wir einem Felsrücken unter dem Lift nach oben, da wir über die Steine schneller sind und sie eine bessere Orientierung bieten. Fast 150 Höhenmeter kämpfen wir uns zurück nach oben, bis ich auf meiner Uhr erkenne, dass die Höhenlinien weiter auseinanderliegen und damit flacheres Terrain verheißen. Unser Plan sieht vor, unterhalb des Laghi di Cimalegna nach Südwesten zu queren und hoffentlich wieder auf unseren ursprünglichen Track zu treffen. Die Sicht wird immer schlechter. Ich verlasse mich beinahe nur noch auf das GPS meiner Uhr. Die violette Linie, die die Route markiert, erscheint mir wie der einzige Anker in dieser düsteren, weißgrauen Szenerie. Noch 120 Meter bis zur Route. Wir treffen auf eine Skipiste und die Konturen des Untergrunds verschwimmen zu einer nebligen Masse mit der Umgebung. Plötzlich durchzuckt ein grelles Leuchten den Himmel, von dem ich nicht mehr weiß, wo er anfängt und wo er aufhört.


Der Schreck fährt mir durch Mark und Bein und die Sekunden die ich zähle, dienen ebenso sehr meiner Beruhigung wie dem Prüfen, wie weit das Gewitter von uns entfernt ist. Ich komme bis zur sieben. Das sind etwas 2,5 Kilometer, die das Gewitter entfernt ist. Zu nah. Viel zu nah. Ich verschließe die Panik in einen Winkel meines Bewusstseins, wo ich sie später herausholen und mich mit ihr befassen kann. Nicht jetzt. Jetzt brauche ich einen klaren Kopf. Der Weg befindet sich immer noch ein Stück unterhalb. Vorsichtig suche ich einen Weg über nasses, schrofiges Gelände. Endlich treffen wir auf den Pfad und die Wolken ziehen sich etwas oberhalb zurück, sodass ich den Verlauf des Wegs ins Tal hinein erkennen kann. Von hier aus glücklicherweise schneefrei. Ich mache drei Kreuze. Wir sind zwar noch nicht in Sicherheit, aber zumindest sollten wir ab hier keine Schwierigkeiten mehr mit der Routenfindung haben.
Immer noch grummelt und grollt es. Manchmal blitzt und kracht es so unvermittelt, dass mein ganzer Körper zusammenzuckt. Ein Blick auf mein Handy bestätigt unser Erlebnis: Eine besorgte Nachricht von meinem Freund mit der Warnung, dass bei uns laut Wetterdienst gerade „Weltuntergang“ herrschen soll. Das haben wir hautnah erlebt. Ich schreibe schnell zurück, dass wir es aus dem Schlimmsten rausgeschafft haben und uns beeilen, abzusteigen. Jeden Meter an Höhe, den wir verlieren, sehe ich als Gewinn. Langsam bleiben die Wolken über uns zurück. Wie graue, donnernde Bollwerke hängen sie unheilverkündend in dem Pass, den wir vor nicht allzu langer Zeit überquert haben. Ich schlucke schwer und richte den Blick schnell wieder auf den Abstieg, der nun glücklicherweise wolkenfrei vor uns liegt. An der Liftstation Pianlunga tummeln sich unerwartet viele Skifahrer, die sich vor dem Gewitter geflüchtet haben und innerhalb von Minuten in der Sicherheit Alagna Valsesias wähnen können. Verlockend, aber jetzt, wo die unmittelbare Gefahr vorüber ist, sind Michelle und ich entschlossen, die Etappe laufend zu Ende zu bringen. Über einen nassen, wurzeligen Trail geht es steil bergab. Die Bäume vermitteln mir ein Gefühl von Sicherheit. Grüne Wächter, die ihre langen belaubten Arme schützend über mir ausbreiten. Das Adrenalin lässt nach. Jetzt nur nicht unkonzentriert werden.


Während der letzten Kilometer reflektieren Michelle und ich unser Erlebnis. Hätten wir etwas anders machen können? Hätten wir die Gefahr vermeiden können? Noch früher loslaufen, weil die Gefahr von Wärmegewittern stand? Gar nicht loslaufen? Eigentlich waren wir zeitig auf dem letzten Pass. Der Fehler mit der Skipiste ist definitiv vermeidbar gewesen und hat uns eine dreiviertel Stunde gekostet. Andererseits wissen wir auch nicht, wie lange der zugeschneite, eigentlich geplante Track benötigt hätte. War es unvernünftig, überhaupt zu starten, nachdem wir bereits gestern mit mehr Schnee als gedacht auf dem Pass zu kämpfen hatten? Grundsatzfragen, die ich verdreckt und ausgelaugt auf diesem matschigen Pfad noch nicht beantworten kann.
Die Gedanken schweifen weiter. Wie verarbeitet man eine Erfahrung, in der existenzielle Angst erlebt worden ist? Eine Erfahrung, in der unkontrollierbare Variablen eine Rolle spielen? In der der eigene Handlungsspielraum plötzlich nicht mehr ausreicht, um das eigene Wohlergehen zu sichern? Es ist nichts passiert. Jetzt. Aber wie ist es das nächste Mal? Oder das Mal darauf? Statistisch gesehen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passiert mit jeder gefährlichen Situation. Ich werde darüber reden, darüber schreiben, darüber nachdenken müssen, damit meine Angst ein Ventil bekommt. Ein Ventil und eine Leinwand, auf der sie eine Erinnerung bleibt aber keine Bedrohung. Ich habe eine ganze Galerie voll solcher Leinwände. Abstrakt, wild und ungestüm, ein Tohuwabohu von Farben und Formen. Und mit etwas Abstand, finde ich sie schön. Auf eine Art. Das bedeutet nicht, dass ich die Angst liebe, aber die Farben, mit denen sie malt, sind kontrastreich und verwirrend und die Werke, die sie schafft, unvermeidliche Erinnerungen zu leben.

Einen ebenfalls auffallenden Kontrast bilden die pinkfarbenen Flatterbänder, die in regelmäßigeren Abständen am Wegesrand hängen. Das müssen die Markierungen für das morgen startende Monte Rosa Skyrace sein. Das Rennen startet in Alagna Valsesia und führt auf die 4.554 Meter hohe Margherita Hütte. Als wir Alagna Valsesia erreichen, summt das Örtchen trotz des Nieselregens vor angespannter Erwartung. Läufer machen letzte Shake Out Runs, Helfer bauen den Zielbereich auf. Ich kann es mir nicht nehmen lassen, durch den pinken Zielbogen zu laufen. In jeder Hinsicht fühlt sich diese Etappe wie ein Wettkampf an. Was für ein würdiges Ende dieses unerwartet adrenalingeladenen Tages.
Wir übernachten auf dem Campingplatz in Alagna, auf dem mein Freund Malte mit dem Van bereits seit gestern steht. Er startet morgen mit einem Freund bei dem Skyrace. Das Abendessen besteht aus Nudeln mit Gemüse und Tomatensaue. Einfach aber göttlich, sich kostenlos sattessen zu können.

Highlights
- Frühstück mit frischen italienischen Croissants und Siebträger-Kaffee im Hotel Champoluc
- Zwei freundliche Ziegen auf dem Weg zum Colle della Bettaforca (2.672m)
Lowlights
- Gewitter
- Im Abstieg irreführende Skipiste
3. Etappe: Alagna Valsesia – Saas-Grund
Den Wecker, der um kurz vor vier klingelt, hätte ich mir sparen können. Trotz oder gerade wegen der Adrenalinüberdosis gestern hat sich mein Gehirn entschieden, überhaupt nicht zu schlafen. Meine Augen brennen von der Müdigkeit, aber meine Synapsen befinden sich in einem seltsam angespannten Wachzustand. Kein Wunder bei den drohenden 50 Kilometern und zwei Pässen und somit der längsten Etappe. Erneut sitzt uns das Wetter mit potenziellen Wärmegewittern im Nacken, weshalb wir zeitgleich mit dem Skyrace starten möchten. Das Frühstück ist kurz und wortkarg. Malte ist im Anbetracht der Tatsache, gleich 3.500 Höhenmeter am Stück gewürzt mit bodenlosen Cut-Off-Zeiten absolvieren zu müssen, auffallend still. Im Dunkeln begleite ich ihn ein Stück zum Start in Alagna, wo sich bereits dutzende Läuferpaare (der Lauf muss im Zweierteam absolviert werden) tummeln. Wir verabschieden uns und wünschen uns gegenseitig viel Erfolg. Dann widme ich mich meiner eigenen Mission von 50 Kilometern und 3.500 Höhenmetern. Die Ultra Tour Monte Rosa fordert schließlich ihren Tribut.
Auf einer langgezogenen Straße verlassen Michelle und ich das Städtchen und folgen dem Fluss Sesia entlang talaufwärts, vorbei an dem donnernden Wasserfall Acqua Bianca. Schließlich biegen wir auf einen steilen, grasüberwachsenen Steig, auf dem wir Höhenlinie für Höhenlinie und schließlich die Bäume unter uns lassen. Es ist halb sieben und die aufgehende Sonne verwandelt die Blaue Stunde in ein Panorama aus sattem Grün, schillerndem Grau und leuchtendem Orange. An ein paar urigen Steinhäuschen, der Alpe Faller fum Tschukke (laut Outdooractive heißt diese Ansammlung wirklich so) stehen zwei kräftige Tiere, die auf den ersten Blick wie Pferde aussehen, deren lange, pelzige Ohren allerdings verdächtig an Esel erinnern. Mulis vielleicht? Und wer kümmert sich hier um sie? Sie wirken allerdings tiefenentspannt, als bräuchten sie menschliche Hilfe nicht im Geringsten. Ich kann es mir nicht nehmen lassen, eins hinter den Löffeln zu kraulen. Tag gerettet.


Der Weg wird breiter und ist an den Rändern von dicken Steinen eingefasst. In langen Serpentinen windet er sich zum Türlo-Pass hinauf (2.738m) hinauf. In einiger Entfernung vor uns läuft ein einsamer Wanderer ebenfalls den Berg hinauf. Wir haben Glück, denn damit übernimmt er die unselige Aufgabe, die wenigen Schneefelder vor der Passhöhe zu spuren. Auf dem Pass empfängt uns die Sonne, aber auch ein eisiger Wind. Leider dreht der Wanderer nach einem kurzen Gruß um und steigt den gleichen Weg, den er gekommen ist hinunter. Wir müssen allerdings auf der anderen Seite absteigen, die völlig von einer dicken Schneedecke begraben liegt. Von einem Weg keine Spur. Seufzend mache ich mich auf das Schlimmste gefasst und bin positiv überrascht als die Schneedecke mich trägt und ich nicht bis zur Hüfte versinke. Ich orientiere mich am GPS meiner Uhr und nicht viel später haben wir erneut festen Boden unter den Füßen, als uns das Schneefeld auf einem ebenso wie auf der anderen Seite mit Steinplatten befestigten Weg ausspuckt. Trotzdem gibt es immer wieder weiße Überreste, die den Weg wie tückische Brücken überspannen. Auf einer davon fallen Michelle und ich nacheinander auf die gleiche, unwürdige Weise auf den Hintern. Schade, dass es davon kein Video gibt. Wir mussten sehr lachen.
Der restliche Abstieg nach Macugnaga zieht sich schleppend zunächst auf unlaufbaren, wurzeligen Waldpfaden und schließlich auf einem langgezogenem Forstweg ins Tal. Wir überqueren den Torrente Anza und folgen der Landstraße nach Macugnaga. Die Sonne knallt inzwischen unbarmherzig warm und wir freuen uns über die kurze Pause in einer örtlichen Bäckerei, in der wir uns zwei letzte, italienische Schokocroissants teilen.


Inzwischen sind ein paar Wolken aufgezogen, die aber glücklicherweise nicht in unserer Laufrichtung sondern südwestlich in den hohen Gipfeln der Dufourspitze, des Nordends und der Zumtsteinspitze hängen. Trotzdem zieht es mich weiter. Sobald wir es ins Sasa-Tal geschafft haben, liegen keine weiteren Pässe vor uns. Zum Monte-Moro-Pass (2.853m) stehen uns jetzt allerdings erneut 1.700 Höhenmeter bevor. Wieder geht es zunächst durch den Wald und schließlich über offenes, steiniges Gelände. Mir ist zu heiß. Das Wetter und die Bedingungen auf und hinter dem Pass machen mir Sorgen. Trotzdem versuche ich mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Einen schweißtreibenden Schritt nach dem anderen. Etwa 200 Höhenmeter unter dem Pass beginnt der Schnee wie befürchtet, uns das Leben schwer zu machen. Mühsam arbeiten wir uns von Steininsel zu Steininsel nach oben. Der Pass selbst entpuppt sich als unübersichtlich. Ein Restaurant und eine Berghütte sind noch geschlossen und der Schnee verdeckt jegliche markierten Wege. Schließlich finden wir die Gitterstufen, die uns zum höchsten Punkt führen, auf dem eine Madonnenstatue thront und die Grenze zu der Schweiz markiert. Pünktlich dazu fängt es an zu regnen. Binnen Minuten verwandeln sich die Steine in glitschige Felsrutschen und verlangsamen unseren Abstieg beträchtlich. Gott sei Dank hören wir kein unheilverkündendes Grollen.
Glitschige Felsen bleiben allerdings nicht unsere einzige Herausforderung. Schon bald finden wir uns in einer steilen Schneeflanke wieder, die ein Vorankommen äußerst unangenehm macht. Auch danach wird es nicht besser, sondern schlimmer: Der normalerweise markierte Weg verläuft nicht am Boden des langen Talkessels, der sich zum Pass hinaufschwingt, sondern an der westlichen Bergflanke. Diese ist allerdings noch weitestgehend unter Schnee begraben, sodass die roten Wegmarkierungen häufig nicht sichtbar oder völlig unerreichbar sind. Ich schlucke und dränge erneut die aufkeimende Angst zurück. Das ist nicht gut. Ohne Steigeisen sind unsere Möglichkeiten, Schneefelder zu queren deutlich begrenzt oder sehr gefährlich.


Mit den Augen suche ich die Bergflanke ab und versuche, die logischste Linie zu finden. Ich verlasse mich auf meine Intuition und meinen Glauben, dass es einen Weg nach unten geben muss. Trotzdem geht es nicht ohne Schneefelder. Insgesamt drei Stück, eins davon mindestens 30 Meter lang, müssen wir queren. An diesem Punkt übernehme ich die Verantwortung, da ich im alpinen Bereich mehr Erfahrung habe. Jedes Mal gehe ich vor und versuche, so gut es mit den Gummispitzen meiner Trailrunner geht, Stufen in den unnachgiebigen Schnee zu hacken. Wäre er noch härter oder gar Blankeis, hätten wir keine Chance gehabt.
Einen Stock funktioniere ich als behelfsmäßigen Eispickel um. Die andere Hand ramme ich als Faust in den Schnee. Fuß. Fuß. Stock. Faust. Fuß. Fuß. Stock Faust. Ich klammere mich an diesen Rhythmus wie einen Anker. Bloß nicht nach unten schauen. Meine Hände brennen von der Kälte, aber ich spüre nichts. Auf der anderen Seite leite ich Michelle mit Anweisungen ebenfalls hinüber. Für sie ist es das erste Mal, dass sie solch ein steiles Schneefeld quert. Und dann auch noch ohne Steigeisen. Ich will mir nicht vorstellen, was sie gerade durchmacht, und bewundere sie, dass sie so ruhig und konzentriert bleibt. Trotzdem schwitze ich Blut und Wasser.
„Nicht die Füße überkreuzen! Richtig gut, fast die Hälfte geschafft! Immer den Fuß richtig in den Schnee knallen Ja! Richtig reintreten! Fast geschafft.“, feuere ich sie an und bete inständig, dass nichts passiert.
Es passiert nichts, aber mental hat es uns gekostet. Als Folge reagiere ich zu langsam, als ein großer Felsblock unter meinem Fuß nachgibt. Ich stürze und stoße mir gleich beide Schienenbeine äußerst schmerzhaft. Schnell stehe ich auf, nicht ohne zu fluchen. Wenn das geht, scheint nichts gebrochen zu sein. Doch auf meinem linken Schienenbein bildet sich bereits ein dickes Ei, aus dem Blut bis in meinen Socken sickert. Glücklicherweise scheint der Schmerz rein äußerlich zu sein und ich kann weiterlaufen.


Der Blick zurück lässt mich schlucken. Mehr Weiß als Schwarz. Düstere Wolken, die wie eine zähflüssige Welle über den Pass schwappen. Ich schüttele den Kopf. Wären wir von dieser Seite aus gekommen, hätten wir einen Aufstieg bei der Schneelage mit unserer leichten Ausrüstung vermutlich abgebrochen. Hatten wir erneut Glück im Unglück? Ich würde niemandem raten, nachzumachen, was wir gemacht haben, zumindest nicht mit unserer (nicht vorhandenen) Ausrüstung. Waren wir zu leichtsinnig? Zu naiv? Wer kann uns diese Fragen beantworten, außer uns selbst? Für den Moment wende ich den Blick ab. Weg vom unbarmherzigen Weiß und Schwarz, hinein ins grüne Saastal und auf den blauen Mattmark-Stausee, der wie ein glitzerndes Auge den Beginn den Zivilisation verheißt.
Jetzt, wo die unmittelbare Gefahr gebannt ist, drängen sich viel akutere Probleme in den Vordergrund. Unser Abendessen. Der ursprüngliche Plan sah vor, dass Michelle, die die stärkere Läuferin ist, ab dem Stausee nach Saas-Grund oder Saas-Almagell vorläuft, um dort in einem der Supermärkte einzukaufen, die um halb sechs schließen. Das Problem ist, dass es jetzt bereits fast halb fünf ist. Fast anderthalb Stunden später als geplant. Michelle möchte trotzdem versuchen, es zumindest bis nach Saas-Almagell zu schaffen, das fünf Kilometer vor Saas-Grund liegt. Und so trennen wir uns und ich drücke die Daumen, dass sie es rechtzeitig schafft. Ich wähle die asphaltierte, gut laufbare Westseite des Stausees und gönne meinen Beinen damit eine Verschnaufpause. Tosende Wasserfälle donnern in regelmäßigen Abständen von den Bergflanken in den See und besprühen die Brücken mit einem feinen Nebel. Der Anblick ist bezaubernd und bedrohlich zugleich. Ich habe das Gefühl, träte ich nur nah genug an den Rand der Brücke, der Sog des Wassers würde mich über das Geländer ziehen.


Ich esse mein letztes Rosinenbrötchen, das eigentlich für morgen gedacht war. Allerdings befinde ich mich in dieser seelenruhigen Stimmung, die einen befällt, nachdem eine unberechenbare, potenziell folgenreiche Situation glücklich ausgegangen ist. Da erscheint mir ein Rosinenbrötchen als ein sehr geringer Verlust. Als ebenso unbedeutend erscheint mir das Vergehen, den etwa 150 Meter langen Tunnel zu durchqueren, durch den der Weg führt, statt wie laut Schild vorgesehen, über einen äußerst unwegsamen Pfad außen über die Bergflanke zu kraxeln. Ich mache nicht einmal meine Handylampe an, sondern stiefele einfach gleichgültig in das schwarze Loch hinein in dem Wissen, dass mich meine Beine auf der anderen Seite wieder heraustragen werden. Meine Augen sind starr auf den größer werdenden Lichtkreis am Ende gerichtet. Einzig ein kleines Eisfeld bringt meine Beine kurz aus dem Takt, bis sie sich an den neuen Untergrund adaptiert haben.
Auf der anderen Seite beginnt die richtige Landstraße, die sich von hier durch das gesamte Sasa-Tal zieht. Die restlichen knapp zehn Kilometer bin ich wie in einem Tunnel. Als die Route noch einmal etwa drei Kilometer über einen praktisch unlaufbaren Waldpfad führt, gebe ich die Hoffnung auf, dass Michelle es pünktlich zum Supermarkt geschafft hat. Meine Befürchtungen bestätigten sich als ich um zwanzig vor sieben in unserem einfachen Apartment ankomme, das direkt neben den höhnisch verschlossenen Glastüren des Coop liegt. Der Supermarkt in Saas-Almagell schloss laut Michelle um 17 Uhr. Demnach waren alle ihre Bemühungen bereits im Voraus zum Scheitern verurteilt. Diese Erkenntnis ist natürlich besonders bitter. Wie in Italien gibt es auch hier keine offenen Restaurants oder nur überteuerte Hotels. Dreckig, nass und blutig wie ich bin, fällt es mir kurzfristig schwer, meine Emotionen zu kontrollieren. Statt der Euphorie, einen alpinen Ultra mit nicht zu vernachlässigenden Risiken gemeistert zu haben, empfinde ich lediglich eine tiefe Erschöpfung und Verzweiflung. Was sollen wir essen? Zum Frühstück haben wir auch nichts.


Schließlich läuft es auf eine Packung Risottoreis und ein paar übrige Spaghetti, die noch in der kargen Küche aufzutreiben waren, mit Pesto hinaus. Das Pesto ist dem Mitleid einer barmherzigen, schweizerischen Dame zu verdanken, der Michelle unsere missliche Lage schilderte. Trotz allem hat die Situation etwas Urkomisches und drückt genau den Spirit des Ultralaufens aus. Unvorhergesehene Dinge passieren. Sei es ein Schneefeld oder ein Glas Pesto.

Highlights
- Croissant-Stopp in Macugnagna in dieser Bäckerei
- Die freundliche, schweizerische Dame, die uns Pesto schenkt und das Abendessen sichert
Lowlights
- Sehr schlechte Bedingungen auf der Schweizer Seite des Monte-Moro-Passes und dadurch sehr unangenehme Schneefeldquerungen
4. Etappe: Saas-Grund – Täsch
Meine erste Amtshandlung heute Morgen ist, um Punkt sieben Uhr bei der örtlichen Bäckerei zu stehen, in der ich A, ein Vollkorncroissant und ein Brötchen mit Haselnüssen und Aprikosen erstehe und B, einen 10-Frankenschein in Münzen einwechsle. Letzteres dient der Bezahlung des Apartments, welche bar und passend im Kleiderschrank deponiert werden soll, wie uns ein handgeschriebener Zettel an der Tür anweist. Dass das Zimmer ebenerdig und die Terassentür unverschlossen ist, scheint die Gastgeberin nicht weiter zu stören. Aber wer sollte in einem Schweizer Bergdorf schon auf die Idee kommen, zu stehlen?


Etwas ausgelaugt und mit fragwürdigem Frühstück (Michelle: Risottoreste, ich: siehe oben + drei Toffifee) laufen wir los in Richtung Saas-Balen. Da wir etwas unter Zeitdruck stehen und unsere ursprünglich geplante Route laut Outdooractive einige Sperrungen enthält, folgen wir der großen Saastalstraße in Richtung Visp. Auf dem Asphalt rollt es zur Abwechslung richtig gut, auch wenn die kurzen Tunnelabschnitte mit den Autos im Rücken unangenehm sind. Nicht immer gibt es nämlich einen Fußweg an der Saaser Vispa (Fluss) entlang. An der Bushaltestelle Tirbilwang zweigen wir schließlich auf einen schmalen Waldpfad ab, der uns steil in die Höhe katapultiert. Ein einzelnes Alpaka an einer Berghütte sorgt für große Erheiterung. Das Wetter ist auch besser als gedacht und wir sind beide guter Stimmung. Kein Pass und damit auch hoffentlich keine Schneeabenteuer warten auf uns. Zur Abwechslung dürfen wir eine „ganz entspannte“ Etappe genießen. Entspannt überwinden wir auch den abgerutschten Hang inklusive Schneebrücke (ganz ohne Schnee geht´s dann doch nicht), die von einem Schmelzwasserfluss unterspült ist. Und auch die umgestürzten Bäume, die häufig quer über dem 30 Zentimeter breiten Pfad liegen bringen uns nicht aus der Ruhe.
Schließlich geht es noch einmal fast senkrecht durch die Bäume nach oben. Die Oberschenkel und Waden brennen, doch dann umrunden wir schließlich den Bergrücken und befinden uns wieder auf der Westseite des Massivs und somit im Zermatter Tal. Die Kapelle Hannigalp empfängt uns mit einem Berggottesdienst, an dem wir uns leise vorbeischleichen. Durch das Skigebiet Grächen laufen wir hinab in den gleichnamigen Ort. Für uns fühlt es sich bereits an wie ein riesiger Meilenstein. Um dies gebührend zu feiern, gönnen wir uns in der Bäckerei ein riesiges Stück Apfelstrudel. Das Verhältnis von dickem, mürben Teig und kalter, frischer Apfelfüllung ist perfekt. Selig genieße ich meine Hälfte.

Die letzten 18 Kilometer zurück nach Täsch verlaufen ohne größere Zwischenfälle auf der Strecke des Zermatt Marathons. Zumindest besagen dies die kleinen Schildchen, die in regelmäßigen Abständen an Pfosten oder Laternenpfählen hängen. In Randa dreht die Sonne noch einmal auf Grillfunktion, doch mir ist zunehmend alles egal. Das Ziel ist in greifbarer Nähe. Als schließlich Täsch in Sicht kommt und ich am Bahnhof vorbeilaufe, kommt es mir unwirklich vor. Vor gerade einmal vier Tagen sind wir hier gestartet. Nichtsahnend, was die Ultra Tour Monte Rosa für uns auf Lager hat. Jetzt gerade fühle ich allerdings hauptsächlich eine große Erleichterung. Ich bin erleichtert, dass wir beide bis auf kleinere, äußerliche Blessuren unbeschadet angekommen sind.
Die zugeknöpfte, schweizerische Aufseherin des Campingplatzes verbietet uns, zu duschen – trotz unseres Angebots, zu bezahlen – und verweist uns auf den Bahnhof, wo es angeblich auch Duschen geben soll. Vermutlich wollte sie uns loswerden, denn es gibt nichts dergleichen. So, wie wir aussehen – verdeckt, verbrannt, verschrammt – kann ich es ihr nicht einmal verübeln. Den Gedanken, dass wir in Italien bestimmt kurz hätten duschen dürfen, kann ich mir allerdings nicht verkneifen.


Während wir auf einer Bank am Täscher Bahnhof sitzend auf Malte, unseren persönlichen Chauffeur, warten, beginnt langsam, die Erkenntnis gepaart mit ungetrübter Freude in meinen Körper zu sickern. Was für ein großes, außerordentliches Erlebnis die letzten Tage waren. Die Ultra Tour Monte Rosa – self-supported. Mit zweifelhaften Bedingungen, grenzwertigen Herausforderungen aber dem ungebeugten Willen, diese zu meistern. Und über all dem: die unantastbare Schönheit der Walliser Alpen.

Highlights
- Apfelstrudel in Grächen
- Keine Nahtod-Erlebnisse
Lowlights
- Keine Dusche auf dem Täscher Campingplatz
- Einige gesperrte Wege im Saastal
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