Ich liebe gute Gespräche. Ich finde es faszinierend, welche Formen sie annehmen, wie unerwartet sich Gesprächsdynamiken ändern, wie die Themen ineinander überfließen und völlig neue Sinnzusammenhänge bilden. Gespräche verbinden Menschen, ermöglichen Annäherung und Verständnis, schaffen Komplexität in Beziehungen und Zwischenmenschlichkeit. Gespräche, die mit Zeit und Geduld geführt werden, können den Moment und das ganze Leben beeinflussen und geraten doch leider viel zu oft in Vergessenheit. Die Verschriftlichung des Gesprächs ist keine 1:1 Wiedergabe, genauso wenig wie die Personen, die miteinander sprechen. Vielmehr geht es um die Geschichte, die es erzählt, um den Gesprächsfluss und die Windungen, durch die er fließt.
2. Gespräch
Es ist ein sonniger Tag. Der Herbst hat bereits seine bunten Finger ausgestreckt und verwandelt die Bäume in einen magischen Tanz aus Karminrot, Orange und goldenem Ocker. Trotzdem scheint die Sonne noch warm, als sie am trägen dahinströmenden Wasser entlangspazieren, auf dem vereinzelt die ersten Zeichen des Herbstes schwimmen wie kleine farbenprächtige Boote.
„Hey meine Liebe, schön, dass du Zeit hast. Du, die Freundschaft zu ihr bereitet mir gerade etwas Sorgen. Ich höre kaum noch etwas, dabei haben wir letzten Sommer so viel Zeit zusammen verbracht. Ich habe das Gefühl, ich weiß nicht, woran ich bin.“
„Freundschaft. Sie ist so wichtig, wie sie flüchtig sein kann.“
„Was meinst du mit flüchtig?“
„Nun, die Freundschaften sind ebenso verschieden wie die Menschen, die sie eingehen. Und wenn unterschiedliche Definitionen von Freundschaft aufeinandertreffen, kann dies durchaus zu Verwirrung und leider auch Schmerz führen.“
„Aber wir waren doch schon so lange befreundet, ich dachte eigentlich, ich kenne sie. Deshalb macht es mir auch so zu schaffen, dass sie sich so zurückzieht. Wenn ich böse wäre, würde ich sagen, sie interessiert sich nicht mehr für mich.“
„Es ist völlig nachvollziehbar, dass du so empfindest. Sei enttäuscht! Sei wütend! Aber hast du wirklich einen triftigen Grund, warum sie sich nicht mehr für dich interessieren sollte? Du hast gerade eine ziemlich dicke emotionale Brille auf. Vielleicht gibt es auch noch andere Gründe für ihren Rückzug.“
„Ich habe ihren Geburtstag vergessen. Aber ich habe mich direkt danach entschuldigt und versprochen, wir holen das nach. Aber das war mir wirklich unangenehm.“
„Nicht deine Bestleistung, in der Tat. Aber immer noch kein Grund, eine wichtige Freundschaft im Sande verlaufen zu lassen.“
„Du hast Recht. Ich vermisse sie, aber ich will mich ihr auch nicht aufdrängen. Ich habe Angst vor einer Abfuhr.“
„Es ist schwierig, mehr von sich zu geben, wenn von der anderen Person nichts zurückkommt. Ich glaube, ein wichtiger verbindender Faktor in einer Freundschaft ist dieselbe emotionale Bereitschaft, sich dem anderen zu öffnen.“
„Und die Feuertaufe einer Freundschaft ist, um Hilfe zu bitten. Nie ist man so verletzlich und offenbart so viel Vertrauen, wie wenn man zugibt, Hilfe zu benötigen.“
Die Luft riecht nach Wärme, die von den ungleichmäßigen Pflastersteinen unter ihren Füßen gespeichert wird und der sanften Brise, die der Fluss Tag ein Tag aus mit auf seine unendliche Reise nimmt. Die Gedanken über Freundschaft sind tiefgründig und nicht leichtfertig ausgesprochen. Es ist erstaunlich, für wie selbstverständlich das Konzept Freundschaft betrachtet wird, als wäre es fundamental für das Menschsein. Aber lässt sich der Fundamentalismus überhaupt in Frage stellen in Anbetracht der Tatsache, dass der Mensch, seit es ihn gibt, Freundschaften geschlossen hat, um sein Überleben zu sichern? Oder handelte es sich dabei lediglich um Zweckgemeinschaften und Freundschaft ist ein Luxus, der Zeit, Aufopferung, gegenseitiges Bemühen und Interesse fordert?
„Mir persönlich fällt es schwer, tiefe Freundschaften zu entwickeln und aufrecht zu erhalten. Ich bin ein Mensch, der sehr viel alleine sein muss, um den Kontakt zu sich selbst nicht zu verlieren. Ich glaube, damit können viele nicht umgehen und fühlen sich versetzt oder nicht gesehen. Dabei liebe ich meine Freunde und wünsche mir, dass sie wissen, dass sie bei mir immer ein ernst gemeintes offenes Ohr haben.“
„Erinnerst du dich, was ich am Anfang gesagt habe, dass die Freundschaften so unterschiedlich sind wie die Menschen? Eine Freundschaft, in der man sich nur einmal in der Woche hört, kann genauso tief und liebevoll sein wie eine, in der man sich jeden Tag sieht. Es ist eine Frage der Priorität und Zuneigung.“
„Aber wie kommst du dann bitte klar? Du bist der verträglichste Mensch, den ich kenne und hast einen Helferkomplex. Alle, die dich kennenlernen, lieben dich und wollen mit dir befreundet sein. Ich habe häufig das Gefühl, ich möchte gar keine neuen Menschen kennenlernen, da ich ihnen gar nicht gerecht werden könnte.“
„Du bist goldig, aber du übertreibst. Klar, mir fällt es einfach, Menschen kennenzulernen und meistens mag ich sie tatsächlich, aber ich musste auch lernen, dass die Ressourcen für eine ehrliche Freundschaft begrenzt sind.“
„Also hängst du dir jetzt immer ein Schild um den Hals, bevor du auf Menschen triffst mit der Aufschrift „Entschuldigen Sie, Sie sind mit Sicherheit alle ganz toll, aber meine Freundschaftskapazitäten sind gerade am Anschlag“.“
Sie lachen, wie Freunde es in Momenten tun, wenn sie wissen, dass sie dasselbe denken.
„Naja, nicht so direkt. Aber als ich verstanden habe, dass es gar nicht schlimm ist, wenn manche Türen sich schließen, verleiht das meinem Verhalten anderen Menschen gegenüber gleich etwas viel unbeschwerteres und offenherziges.“
„Wie gehst du damit um, wenn Türen sich schließen?“
„Lass mich dir eine kleine Geschichte aus meinem Leben erzählen. Ich hatte lange Zeit einen besten Freund. Wir haben uns geliebt, nicht auf die romantische Art, eher so wie Matisse und Picasso, wenn du verstehst, was ich meine. Wir haben Stunden damit zugebracht, über das Weltgeschehen zu philosophieren, Doestoyevski und Kafka auseinanderzunehmen und wenn ich krank war, hat er mir Tee und selbstgemachte Macarons gebracht. Weißt du, wie schwierig es ist, Macarons selbst zu machen? Er ist ein wunderbarer Mensch, wenn er dich mag, wenn er dich als gut genug empfindet. Mit der Zeit wurde mir seine Neigung, Menschen in Gut und Böse zu kategorisieren, immer bewusster. Er besitzt ein ausgezeichnetes Verständnis von Moral, solange er es nicht für sich selbst anwenden muss. Ich bin kein aggressiver Mensch, umso mehr verwunderten mich meine zusehends verärgerten Gefühle, sobald ich von ihm erzählte oder Zeit mit ihm verbrachte.“
„Das klingt, als wärst du lange Zeit blind für sein Fehlverhalten gewesen.“
„Vielleicht war es so und lange haben die positiven Seiten überwogen, sodass mir alles andere nicht aufgefallen ist. Jeder Mensch hat Fehler. Vielleicht hat er sich in letzter Zeit auch geändert. Es ist auch egal, darum geht es mir nicht. Es geht um meine Einsicht, dass ich diese Tür vielleicht schließen sollte oder vorrübergehend zumindest anlehnen. Wer weiß, vielleicht fällt noch einmal ein Lichtkegel hindurch.“
Ein Funken Sentimentalität traut sich in ihre Augen und wird vom Wind mitgenommen und zum Fluss vor ihren Füßen getragen, wo er sich einen ungewissen Augenblick widerspiegelt, vom Himmel aufgefangen, bevor er für immer in der Unendlichkeit verschwindet. Ihre Blicke folgen, nicht greifbar, suchend, unbestimmt, nachdenklich.
„Das erinnert mich an die Metapher vom „Leben als Reise“. Manche Menschen nimmt man mit, andere bleiben am Wegesrand. Und das ist okay so.“
„Das hast du schön gesagt. Das Magische an Freundschaften, die von liebvoller Zuneigung geprägt sind, ist, dass sie mit viel weniger auskommen als eine romantische Beziehung beispielsweise und trotzdem einen fundamentalen Teil des Lebens ausmachen. Ein guter Freund erlebt alles mit: wie du dich das verliebst, die erste Wohnung mit deinem Partner, dich trennst, deinen Abschluss, dein erstes Kind bekommst, deine Hochzeit…“
„Wie wertvoll ein solcher Mensch ist, dem man nichts mehr erklären muss, der so viel Zeit mit dir verbringt, weil der dich als Person schätzt.“
„Du hast es erfasst! Das ist die Kernessenz von Freundschaft. Es geht nicht um Hormone und Sex, es geht um die unkomplizierte Sympathie aus der schließlich Liebe entsteht, wenn zwei Menschen auf der gleichen Wellenlänge surfen. Freundschaft wird von nichts anderem angetrieben als von ehrlicher Zuneigung. Was für eine größere Wertschätzung könnte es geben?“
„Unkomplizierte Sympathie und ehrliche Zuneigung. Das klingt beinahe so, als wäre eine Freundschaft ein Selbstläufer. Was sind denn deine drei größten No-Gos in einer Freundschaft?“
„Ein Selbstläufer ist eine Freundschaft sicherlich nicht und es steckt viel Zeit und Mühe in einer guten Freundschaft und dazu gehört auch, dem anderen seine Fehler im selben Atemzug zu spiegeln und zu verzeihen. Aber es gibt durchaus bestimmte No-Gos, die mich an einer ernst gemeinten Freundschaft zweifeln lassen. Unzuverlässigkeit, Unehrlichkeit und Unberechenbarkeit.“
„Die drei „Uns-“ sozusagen. Was genau meinst du mit Unberechenbarkeit?“
„Unberechenbarkeit ist für mich wie ein kleiner Vertrauensbruch. Wenn jemand, den du zu lieben glaubst, sich plötzlich ganz anders verhält, als du es erwartet hast, sich nicht mehr meldet, obwohl es keinen triftigen Grund gab oder plötzlich nur noch kurz angebunden antwortet.“
„Genau von so einem Fall habe ich dir doch am Anfang erzählt. Ich weiß noch, es hat mich verrückt gemacht, Schuld gesucht, wo keine war, die Kirche im Dorf abgerissen und im Nirvana wieder aufgebaut. Ich habe mich nicht einmal mehr getraut, eine einfache Nachricht zu schreiben aus Angst vor einer Abfuhr.“
Tiefes Seufzen.
„Im Endeffekt war überhaupt nichts los. Ich habe einfach überreagiert.“
„Aber es zeigt ja trotzdem, dass es dich beschäftigt hat. Du solltest dem nicht die Berechtigung stehlen. Und wenn du die Kirche in deinem eigenen Dorf wieder aufbaust, bleib dabei wenigstens fair dir gegenüber. Und meinst du nicht, deine Freundin hätte auch Interesse an deinen Gefühlen?“
„Das ist ja der springende Punkt. Dem war ich mir eben nicht mehr sicher.“
„Nur sprechenden Menschen kann geholfen werden.“
„Alles, was du sagst, sollte wahr sein. Aber nicht alles, was wahr ist, solltest du auch sagen.“
„Ich habe dich durchschaut, Voltaires Worte aus deinem Munde! Ach komm, gib dir einen Ruck. Weißt du, wie gut es tut, ein Missverständnis durch ein gutes Gespräch aufzulösen? Das ist wie der erste Tag nach einer langen Krankheit, an dem man endlich wieder die Lebensgeister zurückkommen spürt.“
„Du hast ja Recht. Ich werde mit ihr reden. Es hat aber auch schon einfach geholfen, es dir gegenüber auszusprechen. Es fühlt sich an wie ein Heißluftballon, aus dem die Luft gewichen ist.“
„Na siehst du, ich bin froh, dass ich dich habe.“
Ein Lächeln umspielt ihre Lippen, warm und geborgen und sie spazieren weiter in den Sonnenschein, bis nichts mehr zu sehen ist außer zwei kleinen, schwarzen Punkten vor einer riesigen, hellgoldenen Scheibe. Und wer genau hinhört, kann sie immer noch philosophieren hören über Freundschaft und Menschlichkeit, denn derer können schwerlich genug Worte gefunden werden.
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