Ich liebe gute Gespräche. Ich finde es faszinierend, welche Formen sie annehmen, wie unerwartet sich Gesprächsdynamiken ändern, wie die Themen ineinander überfließen und völlig neue Sinnzusammenhänge bilden. Gespräche verbinden Menschen, ermöglichen Annäherung und Verständnis, schaffen Komplexität in Beziehungen und Zwischenmenschlichkeit. Gespräche, die mit Zeit und Geduld geführt werden, können den Moment und das ganze Leben beeinflussen und geraten doch leider viel zu oft in Vergessenheit. Die Verschriftlichung des Gesprächs ist keine 1:1 Wiedergabe, genauso wenig wie die Personen, die miteinander sprechen. Vielmehr geht es um die Geschichte, die es erzählt, um den Gesprächsfluss und die Windungen, durch die er fließt.
1. Gespräch
„Was würdest du tun, wenn dein Kind eine Couchpotato wäre?“, fragt Sanftmut.
Stille. Angespanntes Lächeln.
„Ähm, nun. Ich würde mit ihm in die Natur gehen, versuchen, ihm meine Liebe für Sport und Bewegung zu vermitteln. Es muss ja nicht den gleichen Sport mögen wie ich.“, antwortet Gelassenheit, nicht mehr ganz so gelassen.
„Aber wenn es partout keinen Sport mag. Wie wäre das dann für dich? Ich glaube schon, dass man gewisse Veranlagungen akzeptieren muss.“
„Veranlagungen akzeptieren“ ist das Stichwort dieses Gesprächs, das entbrannte, nachdem wir den deutschen Film „Wunderschön“ gesehen hatten. Der Film zeigt Schicksale, deren Alltag an die Grenzen der gesellschaftlichen Norm stößt. Das Leben im 21. Jahrhundert ist geprägt von einer wachsenden Vielfalt an Lebensentwürfen. Die Identitätsfrage ist so bedeutend wie noch nie. Jeder darf sein, was er glaubt zu sein und erwartet eine bedingungslose, gesellschaftliche Akzeptanz.
Dies hat zweifelsfrei seine guten und wichtigen Seiten, denn eine Liberalisierung der konservativen Geschlechterrollen ermöglicht den Abbau alteingesessener Stereotypen und Glaubenssätze. Doch ab wann ist Diversität und identitätsbezogene Freiheit eher verunsichernd? Gibt es diesen Punkt und wie geht man damit um?
„Ich würde meinem Kind kein Buch vorlesen, in dem abends immer der Papa nach Hause kommt und die Mama den ganzen Tag wäscht, putzt, kocht und einkauft.“, meint Ehrgeiz stoisch.
„Also würdest du deinem Kind nur Bücher vorlesen, in denen abends die Mama nach Hause kommt?“, hakt Vorsicht nach.
„Nein, so meinte ich das nicht…“
„Was ist, wenn die Mama zu Hause bleiben will?“
„Es gibt aber genug Mütter, die auch gerne mehr arbeiten würden und Väter, die zu Hause bleiben wollen.“
„Also ich würde meinem Kind ein Buch vorlesen, in dem alle Kinder grün tragen. Das ist doch eine schöne, geschlechterneutrale Farbe.“, wirft Gelassenheit ein.
„Was spricht denn dagegen, wenn man sein Kind in der sensiblen Phase zunächst in seinem biologischen Geschlecht bestärkt? Als Elternteil ist man schließlich auch eine Stütze in der Identitätsfindung. Ich denke, dass gerade heutzutage viele Kinder und Jugendliche verunsichert werden und glauben, jemand zu sein, der sie gar nicht sind.“, gibt Vorsicht zu bedenken und Sanftmut nickt zustimmend.
Die Alarmglocken mit der Aufschrift „LGBTQ“ klingeln.
„Also würdest du deinem Jungen verbieten, mit einem Kleid in den Kindergarten zu gehen?“, braust Ehrgeiz auf, „Da gab es doch mal diesen Zeitungsartikel von einem Vater, der seinen Sohn, der gerne Kleider trug, im Rock in den Kindergarten begleitet hat, weil dieser sonst immer ausgelacht worden war.“
Vorsicht rollt mit den Augen. „Ich weiß jetzt nicht, was ich davon halten soll…“
„Ja und genau das ist dein Problem. Das ist ein Vater, der seinen Sohn in seiner persönlichen Identitätsfindung unterstützt und nicht seine eigene vorschreibt.“
„Ich rede doch gar nicht davon, seinem Kind vorzuschreiben, welchem Geschlecht es sich zugehörig zu fühlen hat. Es geht darum, Kinder eben nicht zu früh zu verunsichern in ihrer biologischen und psychischen Entwicklung.“
„Ja, das verstehe ich, aber es ist heutzutage nun einmal so, dass Kinder immer früher mit Menschen in Kontakt kommen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen. Und da ist es doch das Beste, wenn man solche Dinge in der Erziehung bedenkt und erklärt. Du musst deinen Jungen ja nicht zwingen, mit einem Rock in die Schule zu gehen oder Ballett zu tanzen, wenn er lieber Fußball spielen möchte.“
„Natürlich würde ich meine Kinder in allem unterstützen, auch wenn es nicht der gesellschaftlichen Norm entspräche.“, glättet Sanftmut die Wogen.
Die Diskussion, die zu diesem Zeitpunkt recht politisch aufgeheizt war, schwenkt in eine persönlichere Richtung um.
„Aber wenn du der Meinung bist, dass das psychische Geschlecht angeboren ist, dann wäre es nur logisch, wenn es auch andere angeborene Eigenschaften gibt. Wenn dein Kind nun von Natur aus übergewichtig wäre, könntest du das akzeptieren?“, bringt Sanftmut die Wogen, die sie gerade geglättet hat, erneut zum Beben. Sie spielt damit auf die Chefin einer Modelagentur mit einer übergewichtigen Tochter aus dem Film an.
Ehrgeiz windet sich und Gelassenheit wird unruhig. „Ich glaube nicht, dass es angeborenes Übergewicht gibt, es sei denn es handelt sich um eine Krankheit.“
„Übergewicht ist meistens ein Symptom von einem tieferliegenden psychischen Problem.“, wirft Vorsicht ein.
„Nun, aber stell dir doch jetzt einfach mal vor, es wäre so, dass deine Tochter, aus welchen Gründen auch immer, übergewichtig wäre. Würdest du sie dann zehn Runden um den Sportplatz schicken?“, hakt Sanftmut nach.
„Ja, das würde ich.“ Ehrgeiz, dem kurzfristig die Argumente ausgegangen sind, feixt.
Gelassenheit versucht es sachlich: „Kinder werden ja auch immer von ihren Eltern geprägt. Ich würde sie schon von Anfang an mit in die Berge nehmen oder anderen Sport ausprobieren lassen. Und selbst wenn Sport nicht ihr Ding ist, wichtig ist mir, dass sie eine Leidenschaft haben, egal ob es Sport, Musik oder Kunst ist.“
Mit dieser Antwort gibt Sanftmut sich zufrieden. „Wisst ihr, ich weiß, wie das ist, gehänselt zu werden. Deshalb habe ich auch unendliches Verständnis für alle, die beispielsweise nicht so sportlich sind. Man kann ja wohl trotz ein paar Kilo zu viel das Leben genießen.“
Die paar Kilo zu viel treffen einen wunden Punkt bei Ehrgeiz, dem seine Disziplin durch einige schwere Lebenslagen geholfen hat. „Aber glaubst du, dass wirklich übergewichtige Menschen glücklich sind? Vorsicht meinte eben schon, dass Übergewicht meist ein Symptom von etwas tieferliegendem ist.“
„Wir reden hier ja auch über ein „paar Kilo zu viel“, nicht über schwere Adipositas.“, korrigiert Vorsicht.
„Trotzdem.“, beharrt Ehrgeiz, „der Mensch ist eigentlich nicht dick von Natur aus. Und ich halte auch nichts von diesem Trend der bedingungslosen Selbstliebe. “Liebe dich selbst, egal wie dick du bist“, das ist doch total toxisch und vermittelt ein völlig falsches Bild von Gesundheit.“
„Aber es gibt Lebenslagen, in denen Menschen nicht die Optimierung ihres Körpers als Priorität haben, bei chronischen Schmerzen zum Beispiel. Aber du hast Recht, den meisten Menschen würde ein bisschen mehr Disziplin nicht schaden.“, lenkt Sanftmut ein.
Während Ehrgeiz darüber nachdenkt, dass zu viel Disziplin ebenfalls schädlich ist, meint Gelassenheit: „Die Kunst ist es doch, an 98 Tagen früh aufzustehen, Sport zu machen und zu arbeiten und an 2 zwei Tagen auszuschlafen und im Bett zu frühstücken, ohne dass sein ganzes System in sich zusammenfällt.“
„Vielleicht auch ein bisschen mehr als 2…“, räuspert sich Sanftmut.
Mit grüblerischem Gesichtsausdruck meldet sich Ehrgeiz zu Wort: „Disziplin ohne Nachgiebigkeit ist nichts. Das musste ich selbst erst lernen. Totale Disziplin kann die ureigene Verbindung zum Körper und dessen Signalen schwerwiegend beeinträchtigen. Das endet dann in Krankheiten und Überlastungssyndromen, glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.“
„Solche Wort aus deinem Mund hört man auch nicht alle Tage.“ Vorsicht schmunzelt.
„Stell dir vor, ich bin auch lernfähig.“, ereifert sich Ehrgeiz. „Nein, im Ernst. Schwäche zu zeigen, um Hilfe zu bitten und „Heute nicht“ zu sagen, ist mindestens genauso wichtig wie Disziplin.“
Sanftmut lächelt. „Selbstakzeptanz ist der erste Schritt für Veränderung.“
„Interessanter Gedanke. In meinem Berufsalltag erlebe ich häufig Situationen, in denen Menschen unglücklich sind. Natürlich wollen sie etwas verändern, das Gehirn strebt schließlich nach hedonischem Ausgleich. Aber wie können sie etwas verändern, wenn sie ihren Ist-Zustand nicht akzeptiert haben? Akzeptieren im Sinne von Verstehen oder Annehmen.“, meint Vorsicht nachdenklich.
„Letztendlich hat doch jeder sein Päckchen zu tragen. Wenn ich so darüber nachdenke, gibt es niemanden, den ich kenne, der nicht mit irgendeinem Trauma in seinem Leben zu kämpfen hat.“, seufzt Ehrgeiz und lehnt sich müde zurück.
„Sei doch nicht immer so pessimistisch. Ich glaube eher, es ist eine Frage der Resilienz, inwieweit jemand von einem bestimmten Ereignis beeinflusst wird.“ Beschwichtigend legt Gelassenheit ihre Hand auf Ehrgeiz´ Bein.
„Was bedeutet Resilienz für dich?“, fragt Sanftmut Gelassenheit.
Verträumt blickt Gelassenheit aus dem Fenster auf den nachtschwarzen See, auf dem sich die Lichter der Straßenlaternen spiegeln wie Sterne, die unter der Wasseroberfläche tanzen. Sie lässt sich Zeit mit der Antwort. Das Gespräch ist ruhiger geworden, wie es passiert, wenn jeder seinen Standpunkt verdeutlicht hat und sich nun dem Nachsinnen über ungewohnte Denkmuster hingeben kann. Der anfänglich hektische, politische Diskurs ist einer philosophischen Grundsatzdiskussion gewichen.
„Abenteuer ist für mich mein ganz persönlicher, unveräußerlicher Wert, den ich in jeder meiner Handlungen auslebe. Für jemand anderes mag es Kreativität, Freiheit oder Humor sein. Für mich ist es Abentuer, dem die Resilienz entspringt. Wenn ich alles in meinem Leben, mein Leben selbst, als Abenteuer sehe, finde ich darin eine Wertschätzung, die im Widerspruch zu negativen Gefühlen steht.“ Gelassenheits Blick wird träumerisch. „Wenn ich zum Beispiel bergsteige und es ist kalt und windig und ausgesetzt und ich bin der rohen Gewalt des Berges ausgeliefert mit allem, was ich bin und war, dann spüre ich die Resilienz. Sie ist ein Teil von mir und bleibt es, auch wenn ich längst wieder im Tal bin.“
Sanftmut lächelt verständnisvoll, wie sie es immer tut. „Und was wäre, wenn du morgen querschnittgelähmt wärst und nicht mehr bergsteigen oder irgendeinen Sport machen könntest? Wo würdest du die Resilienz dann finden?“
Ein leichtes Stirnrunzeln ist das einige Anzeichen dafür, dass die Vorstellung Gelassenheit nicht behagt. „Finden tue ich die Resilienz nie. Sie ist ein inhärenter Teil von mir, vor den manchmal eine Wolke oder ein Gewitter zieht, bildlich gesprochen. Ich würde trotzdem versuchen, eine Inspiration für andere zu sein, so gut, wie ich es querschnittsgelähmt eben könnte. Mein Schicksal ist meine Reise aber nicht meine Entscheidungen, die treffe ich immer wieder selbst.“
Ehrgeiz wirft Gelassenheit einen langen Blick zu.
„Vermutlich wäre ich schon erstmal ziemlich schockiert und traurig, wenn mein aktuelles Leben von heute auf morgen vorbei wäre.“, lenkt sie ein.
„Da bin ich aber froh. Weißt du, es ist auch okay, mal zu quengeln und sich kurz an der resilienten Schulter eines anderen anzulehnen.“, beendet Ehrgeiz mit versöhnlichem Grinsen die Debatte.
Resilienz wird unser Gespräch heute Abend beenden. Wir sind uns einig, dass Resilienz ein gesellschaftlich unterschätztes Konstrukt ist. Die psychische Widerstandskraft sollte ebenso wie die physische Verfassung selbstverständlicher Teil jeder präventiven Maßnahme zur Förderung menschlicher Gesundheit sein. Resilienz hilft dabei, seine Veranlagungen zu akzeptieren und in seiner Situation das Beste aus ihnen herauszuholen. Egal, was für ein Mensch man ist und welche Identität man sich schafft.
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